Bis ich dich finde
nicht selten
eine Rolle in Jacks Träumen, wenn sie [248] in Mrs. Oastlers Push-up- BH auftauchte – auch dann noch, als Alice Mrs. Oastler
den BH zurückgegeben hatte.)
Glücklicherweise träumte Jack nie von der Frau in Grau. Für sein
kindliches Gemüt machte das die Theorie, Mrs. McQuat sei eigentlich tot, nur um
so glaubwürdiger. In der dritten Klasse jedoch, wo ihr unvermitteltes
Erscheinen ebenso an der Tagesordnung war wie Miss Wurtz’ Zusammenbrüche, war
sie sehr lebendig. Als Jimmy Bacon sich vor Maureen Yap entblößte – indem er
sein Gespensterlaken anhob, um ihr zu zeigen, daß er unter seinem Halloweenkostüm
tatsächlich nichts anhatte –, konnte Miss Wurtz wieder einmal gar nicht sagen,
wie sehr ihre Gefühle verletzt waren. (Bitterlich weinend verkündete sie, noch
nie habe sie jemand so vollkommen enttäuscht.) Und
als die Frau in Grau Jimmy mit dem Rücken zum Altar in der Kapelle niederknien
ließ, kackte Jimmy, das verängstigte Gespenst, in sein Bettlaken. Mrs. McQuats
plötzliches Erscheinen hatte die Kontrolle über seinen Schließmuskel bereits
geschwächt, und seine Überzeugung, Jesus sei aus dem Glasbild über dem Altar
verschwunden, gab ihm den Rest.
»Eine schlechte Kostümwahl«, war alles, was die Wurtz über das
vollgekackte Laken sagte.
Ganz gleich, wie sehr Lucinda Fleming Jack mit ihrem
Pferdeschwanz provozierte und er ihren Kopf auf den Tisch drückte – sie hatten
nie einen Streit, der Miss Wurtz in Tränen ausbrechen ließ. Sie gingen nie so
weit, daß Miss Wurtz zu schluchzen begann. Vielleicht waren sie so dumm zu
glauben, daß ihnen so das unvermittelte Erscheinen der Frau in Grau erspart
bleiben würde.
Aber Lucinda wurde wegen eines anderen Vergehens am Ohr in die
Kapelle gezogen: Sie hatte die Antworten in Roland Simpsons Mathe-Test
ausradiert, während dieser Gott in der Kapelle den Rücken gekehrt hatte. (Die
anderen Kinder wunderten sich, [249] daß Lucinda sich diese Mühe gemacht hatte –
höchstwahrscheinlich waren Rolands Antworten ohnehin falsch.)
Mrs. McQuat brachte Jack nur einmal in die Kapelle, doch dieses
Ereignis hinterließ einen bleibenden Eindruck. Nicht indem er Lucinda am
Pferdeschwanz zog und ihren Kopf auf den Tisch drückte, brachte er Miss Wurtz
zum Weinen, sondern indem er sie küßte. Er stellte sich dabei natürlich vor, es
sei Miss Wurtz, doch in Wirklichkeit war es Lucinda Fleming, die er auf den
Nacken küßte.
Es gab nur einen Menschen, der imstande war, Jack zu einer so
abscheulichen Tat anzustiften: Emma Oastler. Emma war wütend auf Jack, weil er
sie bei seiner Mutter »verpetzt« hatte, auch wenn die Rückgabe des schwarzen BH s an Mrs. Oastler nicht gerade ein großes
Strafgericht bewirkte. Emmas Mutter war vollkommen unbeeindruckt von Alice’
Behauptung, Emma habe Jack »sexuell belästigt«. Nach Mrs. Oastlers Meinung
konnte ein Mädchen (oder eine Frau) einen Jungen (oder einen Mann) gar nicht
sexuell belästigen. Wahrscheinlich, behauptete Mrs. Oastler, hätten Jack die
Spiele gefallen, die Emma angeblich mit ihm gespielt hatte. Dennoch wurde Emma
bestraft, wenn auch nur leicht: Sie bekam einen Monat Hausarrest und mußte von
der Schule direkt nach Hause kommen.
»Jetzt können wir nicht mehr auf dem Rücksitz schmusen, Zuckerbär.
Ich darf deinen Kleinen nicht mehr dazu bringen, Männchen zu machen.«
»Es ist ja nur für einen Monat«, sagte Jack.
»In der dritten Klasse gibt’s wahrscheinlich keine, die dich
anmacht«, sagte Emma. »Abgesehen von der Wurtz natürlich.«
Jack beging den Fehler, sich über Lucinda Fleming zu beklagen: daß
sie ihn mit ihrem Pferdeschwanz quälte und immer er derjenige war, der dann
Schwierigkeiten bekam. In ihrer gegenwärtigen Stimmung fand Emma den Gedanken,
daß Jack Schwierigkeiten bekam, wahrscheinlich recht ansprechend.
[250] »Lucinda will von dir geküßt werden, Jack.«
»Wirklich?«
»Sie weiß es nicht, aber sie will es.«
»Sie ist größer als ich«, erinnerte er sie.
»Gib Lucinda einen Kuß, Jack – dann wird sie deine Sklavin sein.«
»Ich will aber keine Sklavin.«
»Du weißt es nicht, aber du willst es«, sagte Emma. »Stell dir
einfach vor, daß du die Wurtz küßt.«
Daß in derselben Woche Gordons Hamster in der Kreideschachtel
gefunden wurde, hätte Jack warnen sollen. Das war ein wirklich böses Omen. Doch
er achtete nicht darauf. Obwohl er es sehr lange nicht wagte, Lucinda Fleming
zu küssen, ging ihm der Gedanke, er könnte es tun,
nicht
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