Bis ich dich finde
eher improvisierter Natur.
Lucinda Fleming saß vor Jack – er konnte nicht über sie hinwegsehen.
Sie wischte ihm absichtlich immer wieder mit dem riesigen, besendicken
Pferdeschwanz, der bis zur Mitte ihres Rückens herabhing, über das Gesicht. In
seiner Not packte Jack ihn mit beiden Händen und zog daran. Es gelang ihm,
ihren Kopf so weit nach hinten zu ziehen, daß er auf Jacks Tisch lag. Jack
stellte fest, daß er Lucinda dort festhalten konnte, indem er sein Kinn auf
ihre Stirn preßte, aber das tat weh. Nichts schien Lucinda je Schmerzen zu
bereiten, es sei denn ihre angebliche Neigung, sich selbst zu verletzen, die
Jack jedoch immer mehr bezweifelte. Vielleicht hatte Lucinda es gehaßt, für
Jack-als-Hester den Dimmesdale zu spielen, oder es ärgerte sie, daß sie einen
Kopf größer war als er. Vielleicht glaubte sie auch, sie könne durch Schläge mit
dem Pferdeschwanz Jacks Wachstum beschleunigen.
Caroline Wurtz sah Lucinda nie mit ihrem Haarbesen nach Jack
schlagen. Sie wurde auf die Situation immer erst dann aufmerksam, wenn Jack
Lucindas Kopf auf seinen Tisch drückte. »Bitte, Jack«, sagte Miss Wurtz dann,
»enttäusch mich nicht.«
Wenn Miss Wurtz in seinen Träumen »Enttäusch mich nicht« sagte,
klang ihre Stimme überaus verführerisch. Ganz anders als [244] im Klassenzimmer
der dritten Klasse. In der Wirklichkeit war es gar nicht gut, Miss Wurtz zu
enttäuschen – sie konnte damit nicht umgehen. Dennoch enttäuschten die
Drittkläßler sie oft und mit Absicht. Es paßte ihnen gar nicht, daß Miss Wurtz
in ihrer anderen Funktion als Regisseurin der Schulaufführungen eine so
hervorragend organisierte Tyrannin war. Daß es ihr nicht gelang, im Unterricht
für Ruhe und Ordnung zu sorgen, war eine Schwäche, die die Kinder ausnutzten.
Gordon French setzte seiner feindlichen Zwillingsschwester einmal
seinen Hamster auf den Kopf. Angesichts von Carolines Reaktion hätte man glauben
können, das Tier sei tollwütig und habe sie gebissen, dabei rannte es bloß wie
verrückt auf ihrem Kopf herum, als befände es sich in einem Laufrad. Miss
Wurtz, die vielleicht fürchtete, der Hamster könne sich verletzen, brach in
Tränen aus. Weinen war das äußerste Mittel, mit dem sie ihrer Enttäuschung
Ausdruck verlieh, und sie griff mit ermüdender Häufigkeit darauf zurück. »Ich
hätte nicht gedacht, daß ich jemals so enttäuscht sein könnte«, schluchzte sie.
»Ich kann gar nicht sagen, wie sehr meine Gefühle verletzt sind!« Wenn Miss
Wurtz zu weinen begann, achteten die Kinder nicht mehr auf das, was sie sagte.
Sie konzentrierten sich auf das, was, wie sie wußten, gleich geschehen würde,
obwohl man sich darauf eigentlich nicht vorbereiten konnte. Die Erscheinungen
der Frau in Grau waren selbst dann überraschend, wenn man damit rechnete.
Das Klassenzimmer hatte nur eine einzige Tür, und trotz ihrer
angeblich übernatürlichen Kräfte konnte Mrs. McQuat nicht durch Wände gehen.
Doch obwohl die Kinder sahen, daß der Türknauf sich bewegte, erschraken sie
jedesmal. Manchmal ging die Tür auf, ohne daß jemand da war. Sie hörten das
angestrengte Keuchen der Frau in Grau auf dem Korridor, und Jimmy Bacon begann
zu stöhnen, während die beiden Zwillingspaare ihre üblichen Alarmsignale von
sich gaben. Bei anderen Gelegenheiten [245] schien Mrs. McQuat ins Klassenzimmer
zu springen, ohne daß sich der Türknauf auch nur das kleinste bißchen bewegt
hätte. Nur Roland Simpson, der zukünftige Delinquent, schloß die Augen. (Er mochte
es, erschreckt zu werden.)
Laut Mrs. Wicksteed hatte die Frau in Grau im Krieg einen
Lungenflügel verloren. Welchen Lungenflügel und in welchem Krieg, das wußte
Jack nicht. Mrs. McQuat war Lazarettschwester gewesen, und es hatte einen
Gasangriff gegeben. Daher das Keuchen – die Frau in Grau war immer kurzatmig.
Wo das geschehen war und welche Art von Gas sie eingeatmet hatte, war Jack
ebenfalls ein Rätsel.
Die Drittkläßler hätten Mrs. McQuats Text schreiben können. Bei
ihren unvermittelten Auftritten sprach die Frau in Grau zu der Klasse, als wäre
sie eine Figur in einer Romanadaption von Miss Wurtz. Mit ihrer todeskalten,
keuchenden Stimme fragte sie: »Wer von euch… hat Miss Wurtz… zum Weinen
gebracht?«
Die Kinder wiesen ohne Zögern auf den Schuldigen. Wenn diese
schreckliche Frage gestellt wurde, hätten sie jeden verraten. In diesem
Augenblick gab es keine Freunde, keine Loyalitäten mehr, denn der dunkle Kern
dessen, was sie glaubten,
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