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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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war dies: Wenn Mrs. McQuat Gas eingeatmet und einen
Lungenflügel verloren hatte, war es dann nicht möglich, daß sie gestorben war?
Wer konnte mit Sicherheit sagen, daß sie kein Geist war? Ihre Haut, ihr Haar,
ihre Kleider: Grau in Grau in Grau. Und warum waren ihre Hände so kalt? Warum
sah niemand sie je zur Schule kommen oder nach Hause gehen? Warum erschien sie
immer so unvermittelt?
    Jack erinnerte sich noch lange an die Frage, welche die Frau in Grau
Gordon French gestellt hatte: »Du hast… deiner Schwester… einen was … auf den Kopf gesetzt?«
    Gordon antwortete: »Einen Hamster. Einen zahmen. «
    »Es hat sich angefühlt wie ein kleiner Hund, Gordon«, sagte
Caroline. Gordon wußte, was kam. Er stand neben seinem Platz [246]  im Gang,
gelähmt von dem Gedanken an das, was er gleich würde erdulden müssen.
    »Ich hoffe… dem Hamster… ist nichts geschehen… Caroline«, sagte Mrs.
McQuat und gönnte Gordon noch einen kleinen Aufschub.
    »Es ist kein Spaß, einen auf dem Kopf zu haben«, antwortete
Caroline.
    »Wo ist der Hamster?« schrie Miss Wurtz
plötzlich. (Daß sie ebenfalls Caroline hieß, sorgte für Verwirrung.)
    »Bitte suche… den Hamster… Caroline«, sagte die Frau in Grau, doch
bevor Caroline French dieser Aufforderung nachkommen konnte, kroch Miss Wurtz
bereits auf allen vieren unter Caroline Frenchs Tisch herum. »Nicht Sie… meine
Liebe«, sagte Mrs. McQuat tadelnd. Alle Kinder taten es Miss Wurtz nach.
    »Wie heißt er eigentlich, Gordon?« fragte Maureen Yap.
    Die Frau in Grau ließ Gordon nicht so schnell vom Haken. »Du kommst…
mit mir, Gordon«, sagte Mrs. McQuat. »Bete, daß dein Hamster… sich nicht verirrt
hat… Wenn er sich verirrt hat… wird er sicher sterben.«
    Die Kinder sahen zu, wie Gordon das Klassenzimmer mit der Frau in
Grau verließ. Alle wußten, daß Mrs. McQuat den Jungen in die Kapelle brachte.
Oft war diese leer – aber selbst wenn einer der Chöre dort probte, ging die
Frau in Grau mit dem zu bestrafenden Kind in die Kapelle und ließ es dort. Es
mußte sich mit dem Rücken zum Altar neben eine der Bankreihen auf den
Steinboden des Mittelgangs knien. »Du hast Gott… den Rücken gekehrt…«, sagte
die Frau in Grau zu dem Kind. »Du kannst nur hoffen… daß Er es nicht sieht.«
    Laut Gordon war es kein schönes Gefühl, Gott den Rücken gekehrt zu
haben und nicht zu wissen, ob Er es sah. Nach ein paar Minuten war er sicher,
daß hinter ihm jemand war – irgendwo in der Nähe des Altars oder der Kanzel.
Vielleicht war [247]  eine der vier Frauen, die Jesus bedienten – Heilige, die
inzwischen selbst Geister waren –, aus dem Buntglasfenster getreten und im
Begriff, ihn mit ihrer eiskalten Hand zu berühren.
    Der Unterricht in der dritten Klasse wurde so häufig auf diese Weise
unterbrochen, daß die Kinder oft gar nicht mehr wußten, wer in die Kapelle
verbannt worden war und Gott den Rücken kehren mußte. Mrs. McQuat brachte die
Kinder immer nur dorthin – sie holte nie eines von dort ab. (Roland Simpson lebte praktisch in der Kapelle.) Die Zeit verging, und
irgendein Kind – oft war es Maureen Yap – sagte: »Miss Wurtz, sollte nicht mal
jemand nachsehen, ob mit Gordon alles in Ordnung ist?«
    »Ach, du liebe Zeit!« rief Miss Wurtz dann. »Wie konnte ich das nur vergessen!« Jemand wurde geschickt, um Gordon (oder Roland) von dem
einsamen Schrecken des Rückwärts-Kniens in der Kapelle zu erlösen. Es fühlte
sich falsch an, in einer Kirche in die falsche Richtung zu sehen – als wollte
man unbedingt Schwierigkeiten bekommen.
    Doch die Drittkläßler waren gut auf die vierte Klasse vorbereitet.
Dort war natürlich Mrs. McQuat ihre Lehrerin. Die einzigen Viertkläßler, die
zur Strafe in die Kapelle mußten, waren neue Schüler, die noch nie in den Genuß
von Miss Wurtz’ emotionalen Kernschmelzen gekommen waren. Die Frau in Grau
hatte keinerlei Probleme, ihre Klasse in den Griff zu bekommen; nur Miss Wurtz’
Klasse erforderte immer wieder das geisterhafte Eingreifen von Mrs. McQuat.
    Die Drittkläßler machten trotz ihrer Angst vor der Frau in Grau
weiterhin Ärger und endeten oft mit dem Rücken zum Altar in der Kapelle, denn
die Art, wie Miss Wurtz die Fassung verlor, hatte etwas Unwiderstehliches. Die
Kinder liebten es, wenn sie weinte, und haßten sie dafür, denn selbst als
Drittkläßler begriffen sie, daß es Miss Wurtz’ Schwäche war, die die Bestrafung
durch Mrs. McQuat heraufbeschwor. (Miss Wurtz’ Schwäche spielte

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