Bis ich dich finde
aus dem Kopf. Er saß hinter ihr und sah ihren Pferdeschwanz hin und her
schlagen, und ihr Nacken war oft entblößt. Und eines Tages, als Miss Wurtz
gerade ein paar neue Wörter an die Tafel schrieb, stellte Jack sich auf die
Zehenspitzen, beugte sich vor, hob den Pferdeschwanz an und küßte Lucindas
Nacken.
Sein Kleiner reagierte nicht – auch das ein böses Omen, und dieses
entging Jack nicht. Und was für ein Blödsinn, daß man den Kindern gesagt hatte,
sie sollten auf Lucindas stille Wut achten! Lucindas Wut war alles andere als
still! Wenn Jack sie an ihrem Pferdeschwanz zog und ihren Kopf auf den Tisch
drückte, gab sie keinen Ton von sich, aber als er sie küßte, brüllte sie, daß
man hätte meinen können, der rächende Geist von Gordons Hamster habe sie
gebissen. Nicht einmal in Jacks wildesten Träumen hatte Miss Wurtz, angetan mit
den verschiedensten Korsetts und BH s, auf seine
Küsse auch nur halb so heftig reagiert wie die völlig durchgedrehte Lucinda.
Lucinda Fleming schrie, bis sie rot im Gesicht war. Sie lag im Gang
neben ihrem Tisch, trat mit den Beinen, fuchtelte mit den Armen und warf Kopf
und Pferdeschwanz herum, als würde [251] sie von Ratten gefressen. Dieser Krise
war Miss Wurtz mit ihren begrenzten Fähigkeiten nicht einmal ansatzweise
gewachsen. Sie dachte vermutlich, daß Lucinda sich auf einen Selbstmordversuch
vorbereitete. »Ach, Lucinda, wer hat dich nur so enttäuscht ?«
rief Miss Wurtz – oder etwas ähnlich Idiotisches. Ihre Reaktionen waren immer
erstaunlich unpassend. Vielleicht benahmen sich die Kinder deswegen so
schlecht, weil sie gespannt waren, was die Wurtz sagen würde.
Wenn sie die Bühnenbearbeitungen ihrer Lieblingsromane schrieb,
hatte Miss Wurtz ein sehr gutes Ohr für starke Sätze, von denen sie viele in
ihre aus dem Off gesprochenen Zwischentexte einbaute. Als sie in Gefühl und Verstand Jack-als-Elinor vorstellte,
charakterisierte sie ihn-als-sie geradezu perfekt. (Jack spielte die
vernünftige Schwester.) Miss Wurtz sagte über Elinor: »Sie besaß ein
vortreffliches Wesen – ihr Herz war zärtlich, und ihre Gefühle waren stark,
doch sie wußte sie zu beherrschen; das war etwas, was ihre Mutter noch lernen
mußte und was die eine ihrer Schwestern nie zu lernen entschlossen war.«
Leider ließ ihn Miss Wurtz, als er in der vierten Klasse war, die
Rolle der überschwenglichen Schwester Marianne spielen, die er nicht ausstehen
konnte. Er wollte Mrs. Dashwood spielen, die Mutter, die sich in alles
einmischt, aber Miss Wurtz, die schlichtweg übersah, daß er den blinden
Rochester, die nicht mehr jungfräuliche Tess, die mit dem A gezeichnete Hester
und die vom Zug überrollte Anna gespielt hatte, sagte zur Begründung, er wirke
nicht alt genug, um eine Mutter von drei Töchtern spielen zu können.
Obgleich Miss Wurtz nie zu wissen schien, was sie sagen sollte, wenn
irgend etwas einfach spontan geschah, sprach sie doch jedesmal mit Nachdruck
und perfekter Intonation und Artikulation, auch wenn ihre Worte verrieten, daß
sie die Situation vollkommen mißverstanden hatte. Für die Kinder war das sehr
verwirrend.
[252] Als Lucinda Fleming plötzlich steif wie ein Brett wurde und
begann, ihren Hinterkopf auf den Boden zu schlagen, fragte Miss Wurtz die
Klasse: »Wer von euch gedankenlosen Kindern hat Lucinda diesen Schmerz
zugefügt?«
»Was?« fragte Maureen Yap.
»Lucinda pinkelt«, stellte Caroline French fest.
Tatsächlich: Lucinda lag in einer sich vergrößernden Lache, und ihr
grauer Rock hatte einen dunkelgrauen Fleck. In einem zum Scheitern verurteilten
Versuch, den Takt von Lucindas auf den Boden schlagenden Kopf zu halten,
begannen die French-Zwillinge mit ihrem nur zu vertrauten Fersentrommeln – sie
klangen wie die Rhythmusgruppe einer Band, die noch viel üben mußte. Anstelle
des von allen erwarteten Schmatzens der Booth-Zwillinge ertönten bedrohlich
wirkende, identische Würgegeräusche. Es klang so, als würden sie nicht an
Decken nuckeln, sondern sich damit strangulieren, doch als Untermalung des
Spektakels, das Lucinda bot, als sie in der Pfütze ihres eigenen Urins lag und
methodisch den Kopf auf den Boden schlug, waren diese Töne geeigneter als
irgend etwas, was Miss Wurtz sagte.
»Lucinda ist gerade ein bißchen unwohl, Kinder«, sagte Miss Wurtz
überflüssigerweise. »Was könnten wir tun, damit es ihr wieder bessergeht?«
Jimmy Bacon stöhnte natürlich.
Jack wollte gern behilflich sein – aber wie? »Ich hab sie doch
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