Bis in alle Ewigkeit
öffnest du den Gurt?«
»Mir tun die Ohren weh, Oma.«
»Hab noch ein bisschen Geduld, wir landen gleich. Dann geht das vorbei.«
Hinter Sofja unterhielten sich zwei Männer, sie verstand nicht, was sie sagten, glaubte aber immer wieder zu hören: »Seien Sie vorsichtig, ich bitte Sie!«
Augenblicklich kam ihr das ganze lange Gespräch mit Agapkin in den Sinn. Sie erinnerte sich plötzlich deutlich, dass er ihren Vater einmal einfach Dmitri genannt hatte, als wäre er ein alter Bekannter, und dass er geweint hatte, als er von seinem Tod erfuhr. Damals hatte sie das nicht verstanden, das Ganze war zu seltsam und überraschend gewesen. Nun aber war ihr klar: Er hatte ihren Vater gekannt, ihr Vater ihn jedoch nicht. Was hatte das zu bedeuten?
Das Flugzeug war gelandet. Subow half Sofja in ihre Jacke.
»Vergessen Sie Ihren Schal nicht. Hier ist es zwar etwas wärmer als in Moskau, aber feucht und windig.«
Während sie in der Schlange vor der Passkontrolle standen, erzählte er ihr, dass sie jetzt in Hamburg in einem Hotel übernachten und am Morgen nach Sylt fahren würden. Das sei eine kleine Nordseeinsel.
»Nach Sylt?«
»Dort ist das Laboratorium, in dem Sie arbeiten werden. Es ist schön dort. Seeluft, Ruhe. Ein wenig langweilig, aber Sie werden ja freie Tage haben, dann können Sie reisen, wohin Sie wollen.«
»Warum gerade Sylt?«
»Unsere Chefs haben nach einem ruhigen, ökologisch sauberen Ort gesucht, der zugleich komfortabel und zivilisiert ist und möglichst weit weg von neugierigen Journalisten.«
»Sylt«, wiederholte Sofja noch einmal.
Subow lächelte verständnislos und schaute ihr in die Augen.
»Sofja Dmitrijewna, erklären Sie mir, was Sie daran so erstaunt?«
»Nichts weiter. Ich habe von dieser Insel gelesen. Es gibt einen Roman von Siegfried Lenz, Deutschstunde, der spielt auf Sylt, während des Zweiten Weltkriegs.«
»Ein gutes Buch?«
»Ein sehr gutes. Werden wir abgeholt?«
»Nein.« Er nahm ihren Koffer vom Gepäckband. »Wozu?«
»Na ja, ich weiß nicht … Ich bin das erste Mal im Ausland …«
»Keine Sorge, Sofja Dmitrijewna. Ich werde die ganze Zeit an Ihrer Seite sein. Ich bringe Sie ins Hotel, gehe mit Ihnen essen, dann werde ich Sie nach Sylt begleiten, unter meine Fittiche nehmen und alle Ihre Probleme lösen. Sie haben doch nichts dagegen?«
»Nein, ganz und gar nicht.« Sofja lächelte. »Danke.«
Moskau 1917
Das Lazarett unterstand der Kontrolle durch den Sowjet. Durch die Flure, die Behandlungsräume und Krankenzimmer liefen dreiste, ungepflegte Personen. Sie belauschten Gespräche, schauten in der Küche in die Töpfe, stürmten im Mantel und in schmutzigen Stiefeln in die Operationssäle. Sie suchten überall nach Agenten der Konterrevolution, stahlen Alkohol und Morphium und zerrissen Laken und Verbandsmaterial für Fußlappen.
Doch diejenigen, die versuchten, sich dem Chaos, dem Diebstahl und der Willkür zu widersetzen, wurden immer weniger.
Die verwundeten Offiziere mussten in die Krankensäle der Soldaten gelegt werden, und dort kam es ständig zu Zusammenstößen. Die Atmosphäre im Lazarett war nicht nur gereizt, sie war explosiv. Ein junger Leutnant, der eine komplizierte Operation der Bauchhöhle hinter sich und wie durch ein Wunder überlebt hatte, stieg auf ein Nachtschränkchen und hielt eine Rede zur Verteidigung der konstitutionellen Demokratie. Er schrie so, dass seine Nähte aufplatzten und er Blutungen bekam. Er stürzte und schlug sich an einem eisernen Bettgestell eine Schläfe auf. Am nächsten Tag starb er, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Einmal stürmte ein genesender Soldat in den OP, stieß zwei Schwestern beiseite, dass sie hinfielen, griff sich ein Skalpell und rannte zurück in den Krankensaal, um sich mit einem politischen Opponenten auseinanderzusetzen.
»So kann man nicht arbeiten«, sagte Sweschnikow, »ich bin kein Psychiater und kein Polizist.«
Agapkin und er kamen erst am frühen Morgen nach Hause. Der Himmel wurde gerade hell, noch waren die Sterne zu sehen.Es hatte Frost gegeben, das vereiste braune Laub knirschte unter ihren Füßen. In ganz Moskau schien es keinen einzigen Hauswart und keinen einzigen Kutscher mehr zu geben. Ab und zu fuhren LKW und Panzerwagen vorbei. In der vormorgendlichen Stille war der Motorenlärm betäubend. Der Professor zuckte davon zusammen. Er war zu leicht gekleidet und fror, er hatte abgenommen und wirkte eingefallen.
»Vielleicht ist es an der Zeit, im Lazarett zu
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