Bis in alle Ewigkeit
kennenlernen, anrufen, um etwas bitten, lächeln, wenn ihr nicht danach war, sinnloser Smalltalk – das alles fand sie ebenso anstrengend und sinnlos wie einen Waggon mit Ziegeln zu entladen oder hundert Klimmzüge zu machen. Auf eine Party unter Kollegen zu gehen, zu einem Geburtstagsbankett in einem Restaurant, einfach ins Kino oder zu Besuch – das alles empfand sie wenn nicht als Qual, so doch als unangenehm. Zuerst erhob sich die Frage: Was anziehen? Und dann: Wozu das Ganze?
Ich verpasse bestimmt meinen Flug, verliere Pass oder Ticket,bringe irgendwas durcheinander, sage im entscheidenden Moment etwas Dummes, missfalle irgendeiner wichtigen Person, dachte sie, während sie sich die Zähne putzte und das Haar mit dem Shampoo ihrer Mutter wusch – was will ich überhaupt in Deutschland? Es kommt sowieso nichts dabei heraus. Ich bin nun mal ein geborener Pechvogel. Die Geschichte mit Petja ist der beste Beweis.
Als sie aus der Dusche kam, schaute sie auf ihr Mobiltelefon. Am Abend hatte sie das Tonsignal abgeschaltet, das ihre Mutter so nervte.
»Sofie, warum antwortest du nicht? Wir müssen uns treffen!«, las sie und schrieb sofort zurück: »Hör auf, lass mich in Ruhe! Ich fliege für ein Jahr nach Deutschland.«
Petja antwortete nicht sofort, und sie meinte, damit sei alles vorbei. Doch als sie im Fotoatelier ihre Passbilder in Empfang nahm, klingelte das Telefon erneut.
»In welche Stadt? Ich bin oft in Deutschland.«
»Weiß ich nicht genau. Ich glaube, Hamburg.«
»Zieh dich warm an. Dort ist es jetzt kalt und feucht.«
Als Sofja über die Straße lief, wäre sie beinahe unter ein Auto geraten. Ein schmutziger Shiguli stoppte mit kreischenden Bremsen, der Fahrer beschimpfte Sofja laut und derb, aber sie bemerkte es gar nicht.
Zu Hause stolperte sie im Flur über eine große Tüte aus schönem Hochglanzpapier. Darin war ein Schuhkarton.
»Ich bin schon ein Weilchen hier, und du hast dir noch nicht einmal die Mühe gemacht, dir anzusehen, was ich dir mitgebracht habe«, sagte ihre Mutter.
»Donnerwetter!« Sofja schüttelte erstaunt den Kopf, als sie ein Paar wunderbarer Stiefel erblickte.
Weiches dunkelbraunes Leder, bequeme Plateausohle. Die Stiefel passten wie angegossen. Noch nie hatte Sofja so schönesSchuhwerk getragen, und sie hätte nie gedacht, dass etwas so Alltägliches wie ein Paar Stiefel in ihr derartige Gefühle auslösen konnte.
Ihre Mutter hockte vor ihr auf dem Boden.
»Na, drücken sie auch nicht? Werden sie nicht scheuern? Ich habe sie anprobiert und eine Nummer größer gekauft.«
»Mama, du bist ein Genie!«
»Natürlich! Hast du daran gezweifelt?«
»Nein, aber woher wusstest du, dass ich dringend Stiefel brauche?«
»Sofie, wir beide kennen uns nicht erst seit gestern. Die Stiefel sind von einer renommierten italienischen Firma.«
»Wahrscheinlich schrecklich teuer?«
»Das spielt keine Rolle. Ich verdiene genug, ich kann mir erlauben, meiner Tochter die Schuhe zu kaufen, die mir gefallen. Natürlich bekommt man inzwischen auch in Moskau alles, aber ich kenne dich doch, du gehst in keine Läden, du trägst dein altes Zeug auf.«
Die Mutter ging in die Küche, Frühstück machen. Sofja drehte sich noch eine Weile vor dem großen Spiegel und betrachtete sich von allen Seiten mit neuen, fremden Augen.
Die weichen Lederwunder passten wie angegossen, aber sie kamen von einem anderen Planeten, aus einer anderen Wirklichkeit. Sie besaß nichts, das sie zu diesen Stiefeln tragen konnte. Mehr noch, sie verlangten nach einem ganz anderen Körper, einem anderen Gesicht, einer anderen Frisur.
Sofja griff nach der Haarbürste und kämmte sich. Ihr Haar war widerspenstig und stand nach allen Seiten ab. Sie sah keineswegs aus wie Marlene Dietrich, eher wie ein zerzaustes Küken.
»Willst du darin frühstücken?«, fragte ihre Mutter, die aus der Küche herausschaute.
»Ich will darin leben«, antwortete Sofja. »Mama, du hast gesagt, roter Lippenstift würde mir stehen?«
»Ja, natürlich. Rouge, Wimperntusche und Puder wären auch nicht verkehrt. Willst du dich doch mit Petja treffen?«
»Nein. Auf keinen Fall.«
Der Kurier von Subow war eine gestrenge ältere Dame, die wie eine Gymnasiallehrerin aussah. Sie setzte sich an den Tisch und füllte den Fragebogen selbst aus, stellte im Ton eines Examinators Fragen, rügte Sofja dafür, dass sie keine Kopie von ihrem Ausweis, ihrem Diplom usw. gemacht hatte, nahm die Dokumente an sich, erklärte, sie werde das erledigen
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