Bis in alle Ewigkeit
egal«, sagte er, »mir hat der Schweizer noch fünfzehn Jahre gegeben. Dir würde er vielleicht mehr geben – fünfundzwanzig, dreißig. Aber das ist doch nichts, ehe du dich versiehst, sind sie vorbei. Es ist alles eitel. Hast du mal darüber nachgedacht?«
»Wozu darüber nachdenken, wenn man doch nichts machen kann?« Subow hüstelte gezwungen. »Der Schweizer hat recht.Diät, Gymnastik, frische Luft. Einmal sind wir alle dran, wie es so schön heißt.«
»Ich bin nicht alle«, sagte Colt dumpf und ballte die Fäuste. »Ich will nicht.«
»Tja, keiner will, Pjotr Borissowitsch!«
»Du wirst diesen Sweschnikow für mich finden, Iwan«, sagte Colt leise und hart, »ihn selbst oder das, was er hinterlassen hat. Ich brauche alles: Archive, Dokumente, Aufzeichnungen, Gerüchte, Klatsch, Nachkommen – alles! Und du wirst das in aller Stille erledigen, so, dass niemand außer uns beiden davon erfährt.«
Neuntes Kapitel
Moskau 1916
Professor Sweschnikow interessierte sich nicht für Politik, er verabscheute sie. Jegliches Pathos, ob patriotisch, demokratisch oder liberal, war ihm zuwider.
Diverse öffentliche Räte und Komitees luden den Professor ein, Sitzungen zu besuchen, Aufrufe zu unterschreiben, an Kongressen, Beratungen und Banketten teilzunehmen. Er lehnte stets ab, erklärte, er habe zu viel zu tun und zu wenig Ahnung von politischen Dingen.
Im Sommer 1916 brodelten in ganz Moskau politische Schlachten, sie erreichten Sweschnikow überall: im Lazarett, in der Konditorei bei einer Tasse Kaffee, im Salon seiner Freundin Ljubow Sharskaja.
Nach solchen Diskussionen hatte er stets ein scheußliches Gefühl. Als hätte er an einer Laienaufführung mitgewirkt, bei der alle schauderhaft spielten, das Stück nichts taugte und keineZuschauer da waren, nur Schauspieler, die sich auf der Bühne drängten, und er alter Esel mittendrin in der Menge. Bis endlich der Vorhang fiel und man den stickigen Saal verlassen konnte. Doch das Stück ging weiter, auf der Straße, zu Hause, im Lazarett.
In einem Saal erzählte zum Beispiel ein einfacher Soldat im Tonfall eines Bänkelsängers: »Der Kerl hat das ganze Weibervolk am Hof ge … dingsbums, die Zarin und die Prinzessinnen, und Seine Majestät raucht seine Papirossa und sieht nichts. Der Kerl gibt der Zarin ein Rauschkräutlein, die Zarin tut es dem Zaren in den Tee, sagt: trink, lieber Freund, und er nimmt ihn aus den weißen Händen seiner Frau, er fühlt das Gift nicht, und darum ist er nun ohne Verstand.«
Sweschnikow bemühte sich, nicht hinzuhören, nicht zu streiten, nicht nachzudenken, doch er hatte immer wieder ein und dasselbe Bild vor Augen: Den Deutschenpogrom in Moskau 1915. Der damalige Moskauer Generalgouverneur Fürst Jussupow war zu Popularität gelangt, indem er dem Volk seine patriotischen Gefühle demonstrierte, überall Spione witterte und Hass auf die Deutschen generell und die Moskauer Krämer im Besonderen entfachte. Aufgestachelt von Reden und Gerüchten, stürmte die betrunkene Menge los, um jeden zu überfallen und zu töten, der einen deutschen Namen trug.
Der Apotheker Karl Ludwigowitsch Brenner, ein Greis mit Asthma und einem Herzfehler, floh mit seiner dreijährigen Enkelin auf dem Arm vor dem Pogrom die Brestskaja-Straße hinauf. In der Apotheke hatte die Menge nach Morphium und Sprit gesucht. Auf den Greis wurde geschossen, doch er starb bei seiner Flucht an einem akuten Herzinfarkt. Er stürzte und schützte mit seinem Körper das Kind.
Es war früh am Morgen, Sweschnikow kam gerade aus dem Lazarett. Als der Droschkenkutscher die Schüsse hörte, erklärteer, er fahre nicht weiter. Der Professor ging zu Fuß, und als er in die Brestskaja einbog, sah er eine Gruppe von fünf Mann auf sich zukommen. Schwankend und schwer atmend. Er dachte kurz an seinen Revolver, der friedlich zu Hause im abgeschlossenen Schreibtischfach lag. Ein Wunder rettete ihn. Eines der irren, vertierten Gesichter kam ihm bekannt vor. Der Soldat, der nach einer Verwundung demobilisiert worden war, erkannte den Professor, starrte ihn stumpf an, lachte und hauchte ihm Alkoholdunst ins Gesicht.
»Geh nach Hause, Doktor, sonst knallen wir dich aus Versehen ab.«
Als sie vorbei waren, entdeckte Sweschnikow in einem schmalen Häuserdurchgang ein Paar Füße in Hausschuhen und hörte leises Kinderweinen.
Fürst Jussupow wurde von seinem Posten als Generalgouverneur abgelöst. Die Verletzten wurden behandelt, die Toten begraben, einige Pogromanstifter verhaftet.
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