Bis in alle Ewigkeit
kamen, assoziierten mit dem Wort »Verjüngung« Scharlatanerie, Alchemie und phantastische Romane.
Viele wussten, dass sich Professor Sweschnikow in seiner Freizeit mit der Epiphyse beschäftigte. Im Unterschied zu Hypophyse und Hypothalamus war diese Drüse noch ungenügend erforscht. Möglicherweise hatte sie etwas mit dem Alterungsprozess zu tun. Es war nicht auszuschließen, dass eine Einwirkung darauf bei einigen Ratten und Meerschweinchen einen zeitweisen Verjüngungseffekt auslöste. Doch niemand, der auch nur ein wenig von Medizin verstand, würde daraus weiterreichende Schlüsse ableiten.
»Michail Wladimirowitsch, was ist eigentlich mit Ossja wirklich passiert?«, fragte ihn Potapenko eines Tages nach einer komplizierten Operation.
»Schon Virchow hat festgestellt, dass eine kurzzeitige Asphyxie ein Kapillarwachstum auslösen und den Blutkreislauf stimulieren kann«, antwortete der Professor und spürte, dass er rot wurde. »Während des Herzstillstands haben wir Stromschläge eingesetzt, deren Wirkung noch nicht endgültig erforscht ist. Ossjas Heilung ist ein ebensolches Rätsel wie seine Krankheit.«
»Vor kurzem bin ich im ›Medizinboten‹ des letzten Jahres aufeinen kurzen Artikel eines englischen Psychiaters über lethargischen Schlaf gestoßen. Er beschreibt den Fall einer Patientin, die sich elf Jahre in diesem Zustand befand. Alle körperlichen Prozesse hatten sich so verlangsamt, dass die Dame, als sie aufwachte, noch immer aussah wie vierundzwanzig, obgleich sie inzwischen fünfunddreißig war. Als Gegenbeispiel führt er die Progerie an, die beschleunigte Alterung im Kindesalter.«
»Um nicht zu altern, muss man also mehr schlafen.« Der Professor lächelte. »Wenn mich der Herr Vivarium das nächste Mal behelligt, werde ich ihm dieses Rezept verraten.«
»Oh, so einfach ist das Ganze nicht. Nach dem Aufwachen hat jene Dame ihr reales Alter binnen weniger Wochen erreicht und sogar überholt. Man konnte direkt zusehen, wie sie Falten bekam und ergraute. Sie hat noch ein Jahr gelebt und ist an einer Gehirnblutung gestorben. Aber genug von traurigen Dingen. Haben Sie Nachricht aus Jalta? Wie geht es Ossja?«
»Vor drei Tagen kam ein Brief von ihm und Tanja. Es geht ihm ausgezeichnet, er hat zugenommen und schreibt einen Abenteuerroman über Indianer. Er lässt Sie, Wassiljew und Schwester Arina grüßen.«
»Und wie kommen Ihre Versuche voran?«
»Sehr langsam.«
»Schade. Ich hätte nichts dagegen, zehn, fünfzehn Jahre jünger zu werden.«
»Sobald ich irgendwelche zuverlässigen Ergebnisse habe, werden Sie mein erster Patient, Doktor – versprochen.«
Als der Professor am Abend im Labor beobachtete, wie der Ratz Grigori die Hinterpfoten nachzog, sagte er zu Agapkin: »Wissen Sie was, Fjodor, ich habe beschlossen, die Versuche einzustellen.«
Agapkin lachte leise und höflich. Er war sicher, dass der Professor scherzte.
Moskau 2006
Bevor Sofja unten an der Tür des alten Hauses in der Brestskaja-Straße klingelte, setzte sie sich auf eine Bank und rauchte eine Zigarette. Noch konnte sie zurück. Ihr war irgendwie mulmig zumute. Nicht wegen Fjodor Agapkin, nein, er war ein einsamer alter Mann, ein interessanter Gesprächspartner, er erinnerte sich an vieles – wahrscheinlich hätte sie ihn schon längst einmal anrufen und ihn besuchen sollen, einfach so, ohne Anlass. Doch jetzt hatte sie plötzlich das vage Gefühl, dass sie hier etwas erfahren würde, das sie besser nicht wüsste. Nicht ohne Grund hatte ihr Vater die Fotos vor ihr versteckt, sich nicht entschließen können, sie ihr zu zeigen, darüber zu reden.
Nein, ich will nicht, ich kann nicht. Ich gehe nach Hause, rufe den Alten an und sage, ich sei krank geworden, überlegte Sofja, drückte die Zigarette aus, ging zur Haustür und presste einen Finger auf den Klingelknopf.
»Kommen Sie herein!«, antwortete eine grobe Männerstimme aus der Sprechanlage.
In der Wohnung hatte sich nichts verändert. Es war sauber, still und dunkel. Der enge Flur mit der roten Ziegeltapete, solide alte Möbel aus dunklem Holz. Auf einer Kommode im Stil der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Heimkinoanlage mit Flachbildschirm. Ein Regal, noch älter als die Kommode, voller DVDs. Bücherschränke über die ganze Wand, abgewetzte Ledersessel. Mitten im Wohnzimmer stand anstelle eines Couchtisches ein alter Thonet-Stuhl mit einem zerschlissenen Spitzendeckchen. Auf dem Fensterbrett eine Reihe Kakteentöpfe. Es roch nach Lavendel
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