Bis in den Tod hinein
Geburtsstunde einer Legende beizuwohnen, dann wollen wir die feierliche Fertigstellung auch nicht unnötig hinauszögern.«
Anselm nickte und nahm unwillkürlich Haltung an, als er entgegnete: » Ich bin bereit!«
» Dann kommen wir zu Regel Nummer eins«, zitierte Boesherz aus dem Gedächtnis. » Achte das Leben!«
Anselm griff in seine äußere rechte Tasche und zog eine Medaille hervor, die er in einem Sportartikelgeschäft gekauft hatte. Auf der Vorderseite, die er Boesherz nun präsentierte, war die Zahl Eins zu lesen. Als Drexler nun endlich einen kleinen Schritt nach vorn machte, fiel etwas mehr Licht auf seinen Vater, das sogleich von einem seltsamen Gegenstand in dessen Mund reflektiert wurde. Boesherz erkannte nun zu seiner Beunruhigung, aus welchem Grund die Korkscheibe zwischen Paul Drexlers Zähnen steckte.
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» Wir haben ihn!«, rief Judith Beer erleichtert aus, nachdem man ihr die Neuigkeiten aus der Fadenkreuz -Redaktion telefonisch mitgeteilt hatte.
Castella schlug die Hände über dem Kopf zusammen und schloss erleichtert die Augen, während Linda Bartholy trotz der guten Neuigkeit weiterhin skeptisch blieb.
» Ist das bestätigt?«, erkundigte sie sich kritisch.
» Ein Kollege von Sonja Wendorff hat die Information in den Text eingebaut. Ich muss sofort los!«
Bartholy wusste, dass sie in ihrer Funktion als Beraterin nicht zur Festnahme des Tatverdächtigen mitgenommen werden würde.
» Vielleicht kann ich ja vor Ort helfen«, versuchte sie sich daher ins Spiel zu bringen. » Falls er sich verschanzt oder eine Geisel genommen hat. Ich weiß, wie solche Menschen ticken, wenn man sie in die Enge treibt!«
» Das wissen wir auch«, entgegnete Castella. » Und genau deswegen bleiben Sie hier! Jack wäre nicht der Erste, der plötzlich anfängt, um sich zu ballern oder alles in die Luft zu sprengen.«
Obwohl Bartholy einsah, dass die Befürchtungen der Dezernatsleiterin nicht unbegründet waren, wollte sie sich nicht so schnell geschlagen geben.
» Es ist…«, setzte sie stockend an, während Judith Beer sich eilig ihren Mantel überzog. » Es ist wegen Severin. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Und wie wir ihn kennen…«
» …ist er uns einen Schritt voraus?« Castella zuckte verdrossen mit den Schultern. » Er hat seinen freien Nachmittag. Mehr weiß ich nicht.«
» Genau das macht mir ja Sorgen«, erwiderte Bartholy. » Oder können Sie sich vorstellen, dass er im Ernstfall irgendeine Regel nicht brechen würde?«
Castella trat wortlos ans Fenster und sah auf das verschneite Tempelhof hinaus, während Judith Beer antwortete: » Sollte Severin allein wirklich schneller gewesen sein als wir, dann müssen wir jetzt hoffen, dass dieser Drexler nicht schneller war als er.«
» Drexler?«, wiederholte Bartholy überrascht.
» Ja«, versicherte Beer. » Anselm Drexler, so heißt er.«
» Das kann doch nicht sein!«
Entschlossen griff Bartholy nach ihrer Tasche und ihrem Mantel. Dann sagte sie mit fast Furcht einflößender Intensität: » Severin ist in größter Gefahr!«
» Was soll das heißen?«, hakte Judith Beer nach, die gerade das Büro verlassen und zu ihrem Dienstwagen gehen wollte.
» Dieser Drexler«, brachte Bartholy nun ängstlich hervor. » Ich kenne ihn!«
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» Ein Leben können Sie noch retten«, erinnerte Anselm seinen Gast.
Zwischen den hinteren Backenzähnen von Paul Drexler klemmte eine kleine Ampulle, die unweigerlich zerbrechen würde, sobald die Korkscheibe seine Vorderzähne nicht mehr stützte. Jede Erschütterung des reglosen Mannes oder auch nur seines Bettes konnten dazu führen, dass sein Gebiss zusammenklappen und das Glas zersplittern würde.
» Die Zyankalikapsel Ihres Großvaters«, erkannte Boesherz, dem das Bild von Karl-Wilhelm Drexler in dessen SS -Uniform im Hausflur aufgefallen war. » Sie haben sie zusammen mit der Pistole geerbt.«
» Er war ein tapferer Mann«, entgegnete Anselm. » Leider konnte er die Kapsel nicht mehr selbst verwenden. Nach seiner Festnahme musste er sich würdelos an einem Gürtel erhängen. Wissen Sie, mein Großvater war sich auch nicht zu schade dafür, die Drecksarbeit zu erledigen. Leider unterstand er dem falschen Befehlshaber, einem Irren, der nicht erkannt hat, wogegen man wirklich hätte ankämpfen sollen. Aber das können wir meinem Großvater nun wirklich nicht vorwerfen, er hat die Befehle schließlich nicht gemacht.«
Anselm holte tief Luft, er war offenkundig angespannt und schwitzte noch immer
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