Bis in den Tod hinein
stark. Dann lächelte er seinem Vater noch einmal zu, bevor er sich voll ehrlich empfundenen Respekts an den Kommissar wandte.
» Wir hätten einander schon viel früher begegnen sollen. Sie scheinen nämlich zu den seltenen Menschen zu gehören, die unserer Gesellschaft noch Hoffnung geben können. Ein Herr, der noch weiß, wie man eine Weste trägt. Und erst Ihre Manschettenknöpfe und die Taschenuhr, ganz wunderbar. Die alte Schule!«
Dann deutete Drexler auf den Nachttisch mit Boesherz’ Pistole darauf.
» Sie können versuchen, sie zu greifen. In der Zeit, die Sie dafür benötigen würden, könnte ich meinem Vater noch die Korkscheibe aus dem Mund ziehen und seinem Leid ein Ende bereiten. Oder Sie versuchen, ihm die Kapsel aus dem Mund zu nehmen.«
Anselm griff in seine rechte Innentasche und zog die Walther seines Großvaters hervor.
» Dafür müsste ich im Gegenzug aber leider Sie erschießen.«
Boesherz sah besonnen zwischen seiner Pistole, Paul Drexler und Anselm hin und her, der zu weit von ihm entfernt stand, um ihn gefahrlos überrumpeln zu können.
» Sie könnten mich auch erschießen, während ich versuche, meine Waffe zu holen«, stellte der Kommissar nüchtern fest.
» Das könnte ich«, bestätigte Anselm. » Aber das widerspräche ja unserer Vereinbarung, und Sie stehen hier vor einem Mann von Ehre. Ich habe Ihnen schließlich versprochen, dass Sie noch ein Leben retten können. Also, entscheiden Sie sich!«
Oft handelt es sich im Grunde um Beziehungstaten, die der Täter gern begehen würde, es aber nicht kann.
» Sie würden Ihren Vater nicht töten«, unterstellte Boesherz Anselm jetzt. » Das können Sie gar nicht. Wenn Sie es könnten, hätten Sie es schon vor Jahren getan.«
Anselm äußerte sich nicht zu diesem Vorwurf. Stattdessen hob er seine Waffe, richtete sie mit zittriger Hand auf Boesherz und begann, ansatzlos und ohne ablesen zu müssen, zu zitieren.
» Soll dir nie, Junge, vergehen der Mut.
Das Leben ist dankbar zu dem, der stets gut!
Und selbst in der Krankheit, in Zeiten von Leid,
nichts kostbarer ist als auf Erden die Zeit.
Denn was heute nicht ist, das kann morgen schon sein,
drum niemals verzweifle, solang’ dein Herz rein.
Das Büchlein, mein Junge, das vor dir nun liegt,
soll stets dich begleiten, drum blick, was man sieht:
Der Severin war ein verblendeter Tor,
ihm kam jedes Leben als lebenswert vor.
Er schützte die Bösen und strafte ohn’ Acht
auch den, der den Menschen nur Gutes gebracht.
Er jagte den Rächer, drum liegt er nun tot
am Boden, erschossen in elender Not.
Nur im Rechten ist’s Leben, im Bösen ist keins.
Drum denk dran, mein Junge: Befolge die Eins!«
Paul Drexler lag regungslos auf seinem Bett, die Kapsel noch immer zwischen den Backenzähnen. Ohne jede Chance zur Gegenwehr verfolgte der hilflose Mann die Geschehnisse.
» Es wird Zeit«, stellte Anselm fest. » Ihr Gedicht habe ich noch nicht in das Buch geschrieben. Es gibt noch keine Fotos von Ihrer Leiche. Ein alternatives erstes Kapitel habe ich schon vorbereitet. Sie dürfen entscheiden, mit welcher Eins die Geschichte beginnen soll.«
Anselm deutete auf die Schublade, aus der er das Album genommen hatte. Ein großer versiegelter Umschlag befand sich darin.
» Retten Sie Ihr eigenes Leben oder das eines todkranken alten Mannes, der sein Kind in einen Sarg gesteckt und es im Garten vergraben hat?«
Als wolle er endlich eine Entscheidung erzwingen, richtete Anselm seine Pistole direkt auf Boesherz’ Kopf und stellte mit beängstigender Kälte in der Stimme die Frage, die er schon so oft an seine Opfer gerichtet hatte.
» Wie gefällt es dir, tot zu sein?«
Boesherz konnte der Waffe direkt in den Lauf sehen. Die Furcht, die in Anselms Gesicht geschrieben stand, erkannte er dabei als sein eigentlich größtes Problem.
Seine Angst könnte ihn noch dazu bringen, von seinem Plan abzuweichen.
» Ich weiß, wessen Leben Sie gemeint haben«, sagte Boesherz nun höflich und lächelte dabei in der Hoffnung, Anselm damit zu beruhigen. » Ich soll nicht meins und auch nicht das Ihres Vaters retten. Ich soll…«
» Lassen Sie die Waffe fallen, sofort!«, wurde der Kommissar rüde unterbrochen.
Boesherz erkannte die Stimme sofort.
» Vorsicht, sein Vater hat eine Giftkapsel im Mund!«, rief er Dennis zu, der durch die offene Gartentür ins Haus gelangt und vorsichtig bis zu Paul Drexlers Schlafzimmer geschlichen war.
» Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich konnte«,
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