Bis in den Tod hinein
fragte die Psychologin so ruhig, wie es ihr angesichts der Umstände möglich war.
» Manchmal laufen die Dinge eben anders«, antwortete Drexler, der nun vernahm, dass vor dem Haus die ersten Einsatzfahrzeuge eintrafen. Er wippte dreimal mit dem Oberkörper nach vorn, dann sah er Boesherz an und sagte: » Mein Vater lebt. Das war nicht die Zyankalikapsel meines Großvaters in seinem Mund.«
» Gut so«, antwortete Boesherz zufrieden, während er die noch immer einsatzbereite Pistole seines Gegenübers dabei nicht aus den Augen verlor.
Linda Bartholy verfolgte unterdessen entsetzt, was sich vor ihren Augen abspielte. Als die Beamten des Einsatzkommandos ihnen hörbar näher kamen, ließ Anselm seine Pistole schließlich fallen und rief gleichermaßen voll Wut, Angst und Entschlossenheit: » Für die Söhne dieser Welt!«
Dann salutierte er vor Boesherz und Bartholy, bevor er sehr viel leiser hinzufügte: » Das hier ist die Zyankalikapsel meines Großvaters!«
Noch ehe jemand hätte eingreifen können, zog Anselm die Ampulle aus seiner rechten Sakkotasche, steckte sie sich zwischen die Zähne und biss zu.
Und während immer mehr Polizeibeamte das Grundstück stürmten und die Sirenen ihrer Einsatzfahrzeuge die ganze Straße in ihr Blaulicht tauchten, klang aus den Lautsprechern im Haus noch immer, wenn auch für niemanden mehr hörbar, Zarah Leander: » Lang ist’s her und doch wie heute. Lang ist’s her. An deiner Seite suchte ich vergebens den Inhalt meines Lebens. Lang ist’s her, vergessen nimmermehr…«
62
Ein Rettungswagen hatte Paul Drexler, der lediglich die Nachbildung einer Zyankalikapsel zerbissen hatte, unverzüglich in die nächstgelegene Klinik transportiert. Für Anselm hingegen hatte der Rettungsmediziner nichts mehr tun können.
» Woher kanntest du ihn denn?«, wollte Boesherz von Linda wissen, die blass im Gesicht war und sich deprimiert an seine Schulter lehnte.
Die beiden waren ins Haus gegangen und hatten sich auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt, um den Erkennungsdienst nicht bei seiner Arbeit zu behindern.
» Ich habe ihm geholfen«, flüsterte Linda ungläubig und verbarg dabei verlegen ihre Hände in den Taschen ihres Mantels.
» Linda, was ist los?«, setzte Severin ungeduldig nach.
» Seine Fachkenntnisse über Serienmorde. Und darüber, wie die Polizei bei der Suche nach den Tätern vorgeht. Er hat das alles von mir gewusst.«
Boesherz stutzte.
» Aus deinen Büchern?«
» Nein.«
Lindas Blick war bislang fest auf den Fußboden gerichtet gewesen. Erst jetzt brachte sie es fertig, Severin anzusehen.
» Aus unseren Gesprächen!«
Boesherz reagierte ruhig. Ganz anders, als es Bartholy erwartet hatte.
» Erzähl mir davon«, bat er lediglich.
Linda sammelte sich zunächst einige Sekunden lang, bevor sie schließlich zu erzählen begann.
» Er war mein Redakteur. Anselm hat alle meine Bücher durchgearbeitet. Wir haben uns oft getroffen und stundenlange Gespräche geführt. Er wollte alles ganz genau wissen, Hintergründe, Methoden, Techniken. Es hat ihn interessiert, warum fast alle Serienmörder gefasst worden sind und welche Fehler sie gemacht haben. Später haben wir dann auch private Gespräche geführt. Ich habe natürlich schnell gemerkt, dass er ein hochneurotischer Mensch war, aber ich hätte ihn niemals als gewalttätig eingeschätzt.«
Linda stand jetzt auf und positionierte sich direkt vor Boesherz, der sich daraufhin ebenfalls erhob. Dann sah sie ihn an, als wollte sie ihn mit ihren Blicken um Verzeihung bitten, und sank Severin schließlich in die Arme, bevor sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
» Linda«, sprach Boesherz beruhigend auf sie ein. » Es ist nicht deine Schuld.«
Er erwiderte den Druck ihrer Umarmung, löste sich dann sanft von ihr und fasste Linda liebevoll ans Kinn, während er so freundlich, wie er nur konnte, zu ihr sagte: » Fahr jetzt bitte ins LKA und warte da auf mich. Ich bin in spätestens einer Stunde bei dir, das verspreche ich. Du kannst jetzt nicht hier im Haus bleiben. Wahrscheinlich bist du eine wichtige Zeugin. Das verstehst du doch, oder?«
Bartholy schloss ihre Augen und versuchte, sich professionell zu verhalten.
» Natürlich«, antwortete sie.
Boesherz fasste daraufhin zärtlich ihre Hand und sagte, noch immer sehr ruhig: » Ich freue mich sogar, dass du ihn gekannt hast. Drexler ist zwar tot, aber trotzdem gibt es noch eine Menge offener Fragen. Und wer könnte die schon besser beantworten als eine
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