Bis in den Tod hinein
schon mal selbst versuchen«, schlug er schließlich vor. » Diese Passwörter sind ja bei uns nicht dazu gedacht, internationale Geheimdienste abzuwehren. Sie sollen nur verhindern, dass Außenstehende sehen können, an welchen Storys wir gerade arbeiten.«
Bittrich kannte Sonja Wendorff nicht besonders gut, aber er wusste, dass sie weder einen Mann noch Kinder hatte. Ihren Großonkel, den Chefredakteur, wollte er nicht anrufen. Man hatte ihn gerade erst über den Tod seiner Verwandten informiert, und ihn in dieser Lage nach einem Passwort zu befragen wäre nicht nur taktlos gewesen, es hätte vermutlich auch nicht zum Erfolg geführt. Es war im Verlag ein offenes Geheimnis, dass die beiden nie viel miteinander zu tun gehabt hatten.
» Ich gucke mal, ob sie es irgendwo aufgeschrieben hat«, sagte Bittrich und suchte die Zettel auf Sonjas Schreibtisch durch, auf denen sie ihre Notizen gemacht hatte. » Es ist bestimmt etwas Simples, vielleicht etwas, das sie direkt vor der Nase hatte.«
Nachdem Bittrich keine Notiz in die Hände geraten war, die zur Lösung des Problems geführt hatte, gab er schließlich auf gut Glück zunächst den Namen von Sonjas Großonkel, danach dann ziellos Offensichtliches wie Lampe, Monitor, Blume, Telefon oder Fenster ein. Da auch dies nicht zum Erfolg führte, überlegte Bittrich, wie die Einführung von Sonja Wendorff seinerzeit genau abgelaufen war. Er selbst hatte die neue Mitarbeiterin in der Redaktion willkommen geheißen.
» Warten Sie mal«, sagte er und sah die Beamten der Schutzpolizei mit einem Glänzen in den Augen an. » Sie war neu und musste gleich an ihrem ersten Tag ein Passwort finden. Sie kannte hier noch niemanden, aber sie hat vermutlich trotzdem etwas genommen, das sie mit dem Fadenkreuz verbunden hat und das sie sich leicht merken konnte.«
Mit der Begeisterung eines kleinen Jungen beim Detektivspielen gab der Ressortleiter den Namen Jan in das Passwortfeld von Sonjas Rechner ein. Nachdem auch dieser Versuch gescheitert war, ergänzte er noch seinen Nachnamen Bittrich.
» Voilà!«, rief er aus, als er daraufhin tatsächlich Zugriff auf Sonja Wendorffs Benutzeroberfläche hatte. » Ich bin eben verdammt eindrucksvoll! Dann wollen wir doch mal gucken, wer dir das angetan hat.«
Zügig, aber konzentriert prüfte Bittrich nun die Dateien, die Wendorff erhalten, bearbeitet und verschickt hatte. Es dauerte nicht lange, bis er die Nachricht gefunden hatte, in der Anselm den Bericht über die Ermordung von Kai Jurek an Sonja zurückgemailt hatte. Er öffnete die Datei und stellte dabei fest, dass sie genau die geheime Information enthielt, die zuvor noch nicht im Text gestanden hatte. Bittrich war sichtlich überrascht.
» Mein Gott«, stieß er aus, als habe er ein Gespenst gesehen. » Drexler? Das kann doch nicht sein…«
59
Die Terrassentür war nur angelehnt, und Boesherz beließ es auch dabei, nachdem er wieder ins Haus gegangen war. Er war jetzt unbewaffnet, und es konnte nicht schaden, sich einen Fluchtweg offen zu halten.
Jetzt war das Haus nicht mehr nur durch Lampen und Kronleuchter erhellt. Die altertümlichen Kandelaber, die anzuzünden Anselm aus Sicherheitsgründen bislang stets vermieden hatte, verbreiteten nun zusätzlich Wärme und Behaglichkeit. Auch wenn sie angesichts der Umstände eher bedrohlich auf den Kommissar wirkten. Zudem hatte Drexler den alten Plattenspieler seines Vaters angestellt, auf dem nun Zarah Leander mit ihrem Klassiker Davon geht die Welt nicht unter in einer Aufnahme aus den Vierzigerjahren zu hören war. Severin Boesherz hatte es nicht eilig. Ihm war klar, dass sein Gastgeber auf ihn warten würde.
» Der Zauber der alten Musik«, rief er die Treppe hinauf, nachdem er ausgekundschaftet hatte, dass sich Anselm nicht im unteren Teil des Hauses aufhielt. » So was wird heute gar nicht mehr produziert.«
Die knisternde Aufnahme, die das ganze Haus auf magische Weise in eine andere Zeit zurückzuwerfen schien, klang schließlich aus, bevor der nächste Titel in derselben antiquierten Tonqualität einsetzte: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n.
» Die Menschen brauchen solche Musik, gerade in schweren Zeiten. Sie haben immer etwas gebraucht, das ihnen in der Stunde der größten Not Mut macht«, entgegnete Anselm, als er bemerkt hatte, dass Boesherz sich dem Zimmer näherte, in dem er seine weiteren Vorkehrungen getroffen hatte. » Kommen Sie herein, ich möchte Ihnen jemanden vorstellen.«
Der Kommissar
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