Bis in den Tod hinein
folgte der Aufforderung und betrat das Schlafzimmer von Paul Drexler. Der alte Mann lag so, wie Schwester Cecilia ihn für die Nacht hergerichtet hatte, in seinem Bett. Anselm hatte lediglich das Kopfteil des Gestells aufgerichtet, sodass sein Vater nun in den Raum hineinsehen konnte.
» Er bekommt alles mit«, erklärte Drexler und forderte Boesherz mit einer höflichen Geste auf, sich zu setzen.
» Guten Abend«, grüßte dieser den Vater seines Gegenübers höflich, bevor er Anselms Aufforderung nachkam und auf dem Sessel Platz nahm, den noch kurz zuvor Schwester Cecilia genutzt hatte.
Dem Kommissar entging nicht, dass seine Pistole auf dem Nachttisch lag, der neben Paul Drexlers Bett stand. Etwa vier Meter von ihm selbst entfernt und auf der Seite des Krankenbettes, die Anselm unzugänglich war.
» Er hat das Locked-In-Syndrom«, berichtete Anselm, der in seiner obskuren Aufmachung mit den Militärorden an der Brust nervös neben seinem Vater stand, als sei er dessen Majordomus.
Boesherz hatte bemerkt, dass die schmale Scheibe eines Weinkorkens zwischen den Schneidezähnen des alten Herrn steckte. Aus seiner Position heraus konnte er jedoch nicht erkennen, was es damit auf sich hatte.
» Am Anfang konnte er sich wenigstens noch durch Zwinkern mitteilen, das geht mittlerweile aber nicht mehr. Egal, ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, was er denkt«, erklärte Anselm.
» Wer hat Ihnen bei der Betreuung geholfen?«, fragte Boesherz, dem die Höhe, in der die Beutel mit der Flüssignahrung angebracht waren, verraten hatte, dass sich zusätzlich mindestens noch eine weitere Person um den Patienten kümmerte.
» Eine Privatschwester«, antwortete Anselm, dem diese Tatsache unangenehm zu sein schien. » Mein Vater hatte keine Hilfe bei meiner Erziehung. Ich hätte mich gern dafür revanchiert und mich auch allein um ihn gekümmert. Aber nach dem Schlaganfall musste ich leider Hilfe in Anspruch nehmen. Ich wäre sonst nicht mit der Zeit ausgekommen, die mir geblieben ist.«
» Sie meinen, die ihrem Vater geblieben ist?«
Anselm schwieg dazu. Auch wenn sein Schweigen nicht weniger aufschlussreich war, als es eine Antwort hätte sein können.
» Das war eine bemerkenswerte Leistung. Sie haben uns ganz schön alt aussehen lassen«, fuhr Boesherz mit einer wohldosierten Portion Anerkennung fort und wandte seinen Blick dabei nicht von Anselm, der regungslos dastand und seinerseits den Kommissar im Blick behielt. » Allein schon die Logistik. So viele Morde in so kurzer Zeit, und das alles neben Ihrer Arbeit. Dafür waren Sie erstaunlich erfolgreich.«
» Dafür?«, ließ sich Drexler reizen. » Jeder hat bekommen, was er verdient hat. Und nicht um der bloßen Rache willen!«
» Nicht?«, widersprach Boesherz. » Wem versuchen Sie denn hier was vorzumachen? Im Grunde wollten Sie sich doch nur an Ihrem Vater rächen. Dafür, dass er Sie als Kind in diesen Sarg gesteckt und Sie mit dieser schrecklichen Liste gequält hat. Was für ein Mann würde seinem Sohn denn auch so etwas antun?«
Anselm sah zu seinem Vater hinüber, der noch immer dalag, als schlafe er mit offenen Augen. Dann strich er ihm mit einem gütigen Lächeln über den Kopf und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Stirn, als wolle er ihn damit gegen Boesherz’ Vorwürfe in Schutz nehmen.
» Es ist so weit«, sagte Drexler dann zu seinem Vater und öffnete die Schublade des Nachttisches, in der normalerweise Medikamente und Verbandszeug lagen.
Dann zog er ein schweres Buch hervor, das sich bei näherer Betrachtung als Fotoalbum herausstellte.
» Dein Geschenk.«
Boesherz schwieg, während Anselm das Album aufschlug und es seinem Vater so vor das Gesicht hielt, dass dieser sehen konnte, was sich darin befand.
» Die Bilder sind nicht besonders gut geworden, aber ich finde, dass ihnen gerade das eine Stärke verleiht, die ein Profi so nicht hinbekommen hätte«, stellte Drexler fest, während er dabei gefällig durch die Seiten blätterte. » Während der ersten Lebensjahre sind Kinder noch imstande zu lernen, da prägt sich ihr Charakter noch aus. Später funktioniert das nicht mehr, da will dann jeder nur noch recht haben. Deswegen sind Kinderbücher so wichtig.«
Minutiös hatte er die Polaroids von den Hinrichtungen seiner Opfer neben die entsprechenden Textpassagen seiner Gedichte geklebt. Seine kurzen, unheimlichen Verse hatte er von Hand und mit Tinte in das Album geschrieben, das er fein säuberlich in acht Kapitel unterteilt
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