Bis in den Tod hinein
wich seine innere Anspannung nach diesem unerwarteten Kompliment schlagartig einem ungewohnten Gefühl von Zufriedenheit. In diesem seltenen Augenblick, in dem sich tatsächlich so etwas wie ein Glücksgefühl in ihm ausbreitete, störte sich Anselm entgegen seiner sonstigen Gewohnheit an absolut gar nichts. Nicht an der kleinen Beschädigung der Untertasse seines Chefs, nicht an der Tatsache, dass dieser auch den untersten Knopf seiner Weste geschlossen hatte. Es störte ihn nicht, dass im Papierkorb ein angebissener Apfel lag, obwohl dort nur Papierabfälle hineingehörten, und auch nicht, dass die Augenbrauen der drallen Blondine auf dem Wandkalender lediglich aufgemalt waren.
Es kam wahrhaftig nicht oft vor, dass Anselm sich an nichts störte.
» Wie geht es eigentlich Ihrem Vater?«, lenkte der Redaktionsleiter jetzt vom Thema ab, während er sich abwandte, um seinem Mitarbeiter zu verstehen zu geben, dass er nun seine Arbeit fortsetzen wollte.
» Ich tue, was ich kann, damit er sich wohlfühlt«, gab Anselm zur Antwort, während die ständige quälende Unzufriedenheit langsam wieder Macht über ihn ergriff.
» Schlimme Sache, ich habe davon gehört. Wie alt ist er denn?«
Anselm hasste diese Frage. Sie suggerierte, dass menschliche Schicksale immer weniger furchtbar wurden, je höher das Lebensalter war, in dem sie einen ereilten.
» Fünfundachtzig«, antwortete er dennoch. » Er hat sehr viel durchgemacht in seinem Leben. Aber er war ein guter Vater. Und jetzt bin ich für ihn da.«
Anselms Chef streckte ihm seine Hand zur Verabschiedung entgegen.
» Ich bin mir sicher, er weiß das sehr zu schätzen«, sagte er. » Kommen Sie denn allein mit ihm zurecht?«
» Ich habe noch eine Privatkrankenschwester engagiert. Das lässt mir Zeit für meine Arbeit. Und dafür, mich um sein Geschenk zu kümmern. Ich habe ihm nämlich eine ganz besondere Überraschung versprochen. Dafür, dass er seine Lage so tapfer aushält.«
» Das klingt ja interessant. Was schenken Sie ihm denn?«
Als Anselm einen Moment lang seine Blicke durch den Flur schweifen ließ, sah er ein Exemplar der aktuellen Ausgabe des Fadenkreuz auf dem Schreibtisch einer Redakteurin liegen. Die Schlagzeile lautete: Das Blutbad geht weiter – wer ist der gnadenlose Killer?
» Das kann ich noch nicht verraten«, antwortete er dann. » Aber wenn es fertig ist, dann werden Sie es zu sehen bekommen. Das verspreche ich Ihnen.«
9
» Die Kartoffeln schmecken ein bisschen nach Mais, dafür schmeckt der Mais wie Wasser. Wenn das Wasser jetzt nach Kartoffeln schmeckt, ist das Universum wieder im Gleichgewicht«, spottete Boesherz.
» Wenn du was essen willst, das nach Kartoffeln schmeckt, dann probier mal den Reis«, konterte Dennis, der mit seinem Tablett in der Hand an Boesherz’ Tisch getreten war. » Kann ich mich zu dir setzen?«
Boesherz lächelte freudig. Die Ablenkung kam ihm wie gerufen.
Severin hatte sich mit einem beachtlichen Stapel an Exemplaren verschiedener Tageszeitungen in die Kantine des LKA zurückgezogen.
Während eines der seriöseren Blätter titelte: Berlin im Griff eines Mörders – woher kommt die Gewalt?, eröffnete das reißerische Fadenkreuz lieber mit: Blut, Tod, Schmerz! Wen schnappt sich der irre Killer als Nächsten? Es gab eine Vielzahl teils besser, teils schlechter geschriebener Berichte über Jacks Morde, wobei Boesherz auffiel, dass die Gewichtung in der Berichterstattung maßgeblich auf das Bildungsniveau der angesteuerten Käuferschicht abgestimmt war. Während die eine Zeitung wild über die Qualen spekulierte, denen Jacks Opfer mutmaßlich ausgesetzt worden waren, nahm eine andere den Tod Pierre La Maires zum Anlass, eine Reflexion zu Fragen des Tierschutzes vorzunehmen. Wie Boesherz es bereits erwartet hatte, wiesen einige Blätter darauf hin, dass sie über die späteren Mordopfer bereits früher berichtet hatten, andere kritisierten ihre Mitbewerber gerade deswegen und warfen ihnen eine mediale Hexenjagd vor. Boesherz erkannte zu seinem Bedauern, dass es schier unmöglich war, aus der Unmenge an Berichten tatsächlich unmittelbar verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen. Auch wenn er seine Idee zu einem späteren Zeitpunkt eventuell noch einmal aufgreifen würde.
Das Auftauchen von Dennis Baum war für ihn eine willkommene Ablenkung, vor allem weil der junge Kollege an einem ganz anderen Fall arbeitete.
» Hast du dein Model schon gefunden?«, wollte Boesherz wissen.
Dennis war bereits seit einigen
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