Bis in den Tod hinein
an.
Doch Gesundheit und Wohlstand zu öd’ ihm bald war’n.
Auf die Dächer er stieg, fand Genuss an Gefahr’n.
Setzt’ sein Leben aufs Spiel, ohne Grund, ohne Not.
Bis der Griff ihm versagte und er stürzt’ in den Tod.
Die Gedärme verteilt und zu Tode verletzt.
Drum denk dran, mein Junge: Die Fünf ist Gesetz!«
Boesherz hatte verstanden. Er hatte die Tafel über Anselms Bett nur für einen Augenblick sehen können, aber er konnte dennoch jede der Regeln darauf aus seinem Gedächtnis rekonstruieren.
» Nummer fünf: Meide die Gefahr!«, rief er Drexler entgegen. » Gereon Voss hat ohne jeden Grund sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er hatte alles, was man sich wünschen konnte, und trotzdem musste er immer wieder auf diese Häuser klettern.«
Kaum dass Boesherz das gesagt hatte, setzte Drexler mit dem Schaufeln aus. Nach einem Augenblick der Stille antwortete er: » Ich wusste, dass Sie es verstehen würden. Wissen Sie, es gibt einfach so unglaublich viele Menschen, die nichts begreifen. Die immer wieder dieselben Fehler machen und nichts daraus lernen.«
» Was war mit Steinmetz, dem Sozialschmarotzer? Es ging Ihnen gar nicht um Habsucht, oder? Sie haben einen Schritt weiter gedacht. Regel vier: Diene der Gesellschaft!«
Der Ole, der sah nicht, wie’s and’ren geschah.
Er dacht’ stets an sich, nur sein’n Vorteil er sah.
Wollt’ nur haben, nur nehmen – doch wer and’ren nie gab,
der hat keinen Halt, wenn er sinkt in sein Grab.
Abgesoffen im Wasser treibt er tot nun vor dir.
Drum denk dran, mein Junge: Befolge die Vier!
» Und was ist bei Jurek schiefgelaufen?«, fragte Boesherz weiter, beständig darum bemüht, sich seine wachsende Anspannung nicht anmerken zu lassen.
» Irgendwas geht doch immer schief. Egal, wie gut man sich vorbereitet. Inzwischen bin ich ihm aber dankbar«, antwortete Anselm. » Jurek hat mir nämlich etwas gezeigt, das mich weitergebracht hat. Er hat mir gezeigt, dass man seine Ziele auch auf alternativen Wegen erreichen kann.«
» Bin ich deswegen hier?«
Seit mehr als einer Minute war nun schon keine Erde mehr auf Boesherz gefallen.
» Sie sind der alternative Weg«, bestätigte Anselm und klang dabei regelrecht zuvorkommend, fast schon bittend. » Sie können noch das schaffen, was mir nicht gelungen ist.«
» Haben Sie selbst früher in dieser Kiste gelegen?«, erkundigte sich Boesherz jetzt mitfühlend.
» Ich habe immer gedacht, dass er mich darin begraben will«, setzte Anselm darauf zu erzählen an. » Ich hatte solche Angst, jedes Mal. Und immer wieder habe ich geglaubt, dass er mich dieses Mal vielleicht nicht wieder befreien wird. Manchmal hat er mich stundenlang darin liegen lassen, ich habe sogar ganze Nächte darin verbracht. Ich musste so lange darin liegen bleiben, bis ich die Regeln aufsagen konnte! Und ich habe ihn dafür gehasst. Genauso wie für die Kinderlieder und die grausamen Geschichten. Aber dann, irgendwann, habe ich es verstanden.«
Boesherz folgte nicht nur Anselms Ausführungen, parallel dazu schätzte er auch seine eigene Lage ein. Er vermutete, dass Drexler aufrecht stand und auf die Kiste hinunterblickte. Dann kalkulierte er Anselms Körpergröße, schätzte ein, auf welcher Höhe dieser den Spaten hielt und wie lange die Erde benötigte, um auf der Kiste zu landen. Er kam schließlich zu dem Ergebnis, dass er nur etwa einen Meter tief unterhalb der Erdoberfläche lag.
» Sie meinen, Sie haben verstanden, was Ihr Vater Sie damit lehren wollte?«, ging er nun auf Drexler ein.
» Wissen Sie, die Menschen lernen einfach nicht im Guten. Wenn man zu einem Kind bitte sagt, dann denkt es sofort, dass es eine Wahl hätte. Und es wird das Gegenteil von dem machen, was es soll. Nur wenn man ihnen von klein auf beibringt, dass sie zu gehorchen haben, werden sie später redliche Menschen sein. Man kann Erwachsene nicht mehr formen, aber man kann dafür sorgen, dass sie es wenigstens bei ihren Kindern besser machen.«
» Haben Sie Moldenhauer deswegen am Leben gelassen? Weil er noch jung ist?«
» Sein Tod war nicht notwendig. Kennen Sie Konrad, den Jungen, der am Daumen lutscht, obwohl es ihm die Mutter verboten hat?«
Boesherz konnte sich gut an die unheimliche Geschichte aus dem Struwwelpeter erinnern, in der ein böser Schneider dem kleinen Jungen die Daumen mit seiner Schere abtrennte, weil das Kind trotz Verbotes daran gelutscht hatte.
» Der Junge erfährt nie, aus welchem Grund er nicht am Daumen lutschen soll. Deswegen
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