Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
in einigen Zeitungen und eventuell sogar im Fernsehen zu sehen sein. Wer hat den BILD -Chef gesehen? Keine Hinweise. Ich bliebe verschwunden, verschluckt, einfach weg. Wäre ich Gesprächsthema? Vermutlich eine Zeitlang – wie lange, zwei Wochen? Schreckliche Sorgen würden sich machen: meine Eltern, mein Bruder, mein Sohn, meine Ex-Frau, meine Ex-Freundin, meine Freunde, viele Kollegen (nicht alle). Mein Verschwinden wäre ein mysteriöses Rätsel.
Wann würde meine Stelle nachbesetzt? Nach ein paar Wochen kommissarisch, nach drei Monaten offiziell? Wann hätten sich die meisten an mein Nicht-mehr-da-Sein gewöhnt? Nach zwei Monaten, nach einem halben Jahr?
Ich liege noch immer im Bett und bin weit weg von dem, was mir heute bevorsteht. Mein Körper fühlt sich wie taub an. Ich komme mir vor, als hätte ich keinen Kontakt mehr zu dem, was wirklich ist. Als schwebe ich im luftleeren Raum. Als kriege ich die Welt und die Welt mich nicht mehr zu fassen.
Ich zwinge mich, die Gedankenreise zu beenden. Beim Aufstehen merke ich, dass ich noch nicht ganz bei mir bin. Wie ferngesteuert geh ich pinkeln, stelle mich unter die Dusche, zieh Boxershorts, Hemd, Anzug, Socken, Schuhe an. Ich gucke in den Spiegel im Flur und erkenne mich kaum. Beim Zuziehen der Wohnungstür denke ich: Hier gehst du erst wieder rein, wenn du es hinter dir hast. Die Situation ist in diesem Moment unvorstellbar. Vielleicht überlebe ich es gar nicht. Dann kehre ich nie zurück.
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Filmriss
Oktober 2008
Alkohol ist ein wunderbarer Erlöser. Ein kräftiger Rausch befreit, macht locker und leicht. Ein paar Gläser Bier, eine halbe Flasche Wein, ein Longdrink oder ein doppelter Kurzer – plötzlich erscheint das nicht für möglich gehaltene Ende eines Stresstages ganz nah. Wie schnell man da zum Säufer werden kann! Alkohol ist nahezu immer verfügbar, getrunken wird allzeit und überall. Ab und an, leider viel zu selten, verordne ich mir eine Trinkpause. Ein paar Wochen ohne Alkohol – gar nicht so leicht.
Nicht derjenige, der trinkt, fällt auf, sondern derjenige, der es nicht tut. «Geht es Ihnen nicht gut?» – «Sie müssen wohl noch fahren?» – «Sind Sie Anti-Alkoholiker?»
Ich erinnere kaum eine Situation, in der ich Bier oder Wein ablehne und nicht gefragt werde, wieso. Bin ich ehrlich und sage, ich möchte mal eine Pause einlegen, weil man bei den vielen Terminen und Veranstaltungen ja regelmäßig in Versuchung gerate zu trinken, handle ich mir diesen Blick ein. Den Blick, der mich prüfend mustert als einen, für den Alkohol zum Problem geworden ist. Einer, der dies immerhin selbst erkannt und die Notbremse gezogen hat.
Seit ich fünfzehn, sechzehn war, habe ich bis auf kurze Pausen immer getrunken. Meist mehrmals die Woche, die vergangenen Jahre nahezu täglich. Oftmals mehr als ein, zwei Gläschen zum Essen, auch härteren Stoff, ich liebe Cuba libre und Gin Tonic. Solche Drinks schmecken mir, außerdem schätze ich ihre rasante Wirkung.
Alkohol ist mein Stressvertreiber, mein Sorgenbrecher. Ein anstrengender Tag, Druck bis zum Anschlag – nach Feierabend wirkt Alkohol wie ein Entspannungs-Katalysator. Ich schenk mir einen ein, und schwupps! bin ich runter vom hohen Stresslevel. Alkohol ist ein treuer Kumpel, der einen immer versteht, immer zu einem hält, immer zur Stelle ist, wenn man ihn braucht.
Was ich merke: Ich vertrage zunehmend mehr. Fünf bis sechs Pils, eine Dreiviertelflasche Wein oder drei Longdrinks verdrücke ich ohne den geringsten Kontrollverlust. Noch vor ein paar Jahren wäre mir das nicht gelungen. Ich trinke so viel, dass der Stress mich mal kann, ich aber noch registriere, was um mich herum passiert. Andere handhaben das anders. Ich habe Kollegen, aber auch führende Unternehmer und Politiker in desaströsen Zuständen erlebt. Lallend, schwankend, ausfallend, peinlich – und vor allem ehrlich. Sie ließen im Suff mal so richtig Dampf aus dem Kessel. Einige klagten mit lockerer Zunge über den unvorstellbaren Druck, unter dem sie stünden. Druck vom Chef, Druck der Mitarbeiter, Druck der Partei, Druck der Opposition, Druck der Medien. Sie ließen sich darüber aus, wie sehr sie alles ankotze, wie sehr sie die Faxen dicke hätten.
Ein Abgeordneter hätte in einer solchen grundehrlichen Situation einem anderen Abgeordneten mal fast eine geklebt. Beide hatten nur offen bekannt, wie ihnen das Getue des anderen auf den Geist gehe. Die beiden kamen aus derselben Partei.
Ein Mitglied
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