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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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Führungskräften die Seiten ab. Jeder hält einen Ausdruck in Händen, wir gehen Überschriften, Unterzeilen, Texte, Bildunterschriften, Fotoplatzierungen, Grafiken und Themenmischung durch. Der Spätdienst notiert die Änderungswünsche.
    Dann, das erste Mal an diesem Tag, eine halbe Stunde so etwas wie Entspannung. Die Gala hat noch nicht begonnen. Ich sollte jetzt: mir Gäste für die nächste Sendung überlegen, die ich bei einem lokalen TV-Sender co-moderiere, mir den Entwurf der Etatplanung fürs nächste Jahr mal genauer angucken, das Bürgermeister-Interview redigieren, das wir übermorgen drucken wollen, mit dem Fotochef über die Optimierung der Fotoqualität reden, meinen Gastbeitrag für das Hamburg-Special eines Wohnmagazins schreiben, mit Tim zumindest ein paar Minuten telefonieren. Ich sollte. Ich müsste. Ich kann nicht.
    Das erste Mal heute kein Druck.
    Trotzdem wieder: Blick in die Mails, Blick in die Online-Dienste, Blick in die Agenturmeldungen.
    Danach mal ganz locker. Ich surfe im Netz, lese Banalitäten meiner Facebook-Freunde.
    Ich gähne.
    Um halb neun kommen die ersten Gala-Fotos, um neun ruft die Klatschreporterin an.
    «Wie läuft’s?»
    «Gut. Sind alle gekommen, die angekündigt waren. Haben ganz geile O-Töne.»
    «Chef da?»
    «Ja!»
    «Gut drauf?»
    «Total locker!»
    Keine Hitzewelle.
    Der Rest ist Routine. Fotos aussuchen, Text redigieren, Bildunterschriften checken. Alle Namen richtig geschrieben? Die letzte Headline des Tages. Ich texte was mit Herz, Liebe, alles schön. Automatismus.
    Seite zum Drucker, Seite zum Korrektor, Seite zu mir. Die Augen brennen. Buchstaben-Domino. Fehler in der Bildunterschrift. Schroeder, nicht Schröder! Mann!
    Seite zum Chef vom Dienst, noch einen Buchstabendreher verbessern. Kurz vor elf. Die Druckerei ruft an. «Wo bleibt eure Seite?»
    Am Ende: Mails, Online-News, Agenturen.
    Als ich mein Auto aus der Tiefgarage steure, ist es halb zwölf. Ich bin zufrieden. Und alle.
    Was mache ich hier eigentlich?
    Die Müdigkeit traut sich aus ihrem Versteck und zeigt ihre kräftige Statur. Ich gähne alle zwanzig Sekunden. Laut und lange. Ich will noch nicht ins Bett. Eine Stunde am Tag wach sein ohne Arbeit, das ist doch wohl das mindeste. Ich fahre in meine Stammkneipe. Nur ein Weizen. Um zwei sind’s drei und zwei Cuba libre.
    Angerauscht kippe ich ins Bett.
    Das letzte Mal Mails.
    Das letzte Mal Online-News.
    Dann: Koma.

[zur Inhaltsübersicht]
    Stress
    Dauernd
    Je ehrlicher ich mich mit der Schattenseite meines Jobs auseinandersetze, desto aufmerksamer beobachte ich, wie andere mit dem Druck umgehen, der auf ihnen lastet. Sei es privat in ihrer nicht funktionierenden Beziehung, in der Erziehung ihrer Kinder, in der ehrenamtlichen Verantwortung für ein umstrittenes Projekt oder eben in ihrem Beruf. Die wenigsten stecken das weg. Fast allen ist ihr Stress anzusehen. Sie reagieren unterschiedlich auf die Belastungen, scheinen aber alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie wollen viel, haben viel, geben alles und sind dennoch nicht glücklich. Sie leiden. Jeder auf seine Art, irgendwie aber auch als Stressgemeinschaft.
    Ich sehe jemandem schnell an, ob er Teil der Gemeinschaft oder eine entspannte Ausnahmeerscheinung ist. Aus den Beobachtungen mache ich bald meine eigenen Typen-Kategorien auf.
    Stress-Typ 1, der Cholerische
    Übelste Sorte von allen, insbesondere männliche Vertreter. Läuft alles so, wie er es sich vorstellt, ist der Choleriker entspannt. Er ist freundlich, kommt sympathisch rüber, gegenüber Frauen gibt er den Charmeur, im Umgang mit Geschlechtsgenossen ist er kumpelhaft, zeigt sich interessiert und trifft den richtigen Ton. Erzählt dir jemand von seiner düsteren Seite, willst du nicht glauben, was du hörst. Emotionale Extremausbrüche scheinen unvorstellbar – bis es passiert. Oft reicht schon ein kleiner Patzer, und der Choleriker legt los. Innerhalb von Sekunden rauscht er auf 180. Er verliert von einem auf den anderen Augenblick die Contenance, pöbelt, schreit, tobt. Ich selbst habe nie unmittelbar mit einem Choleriker zusammenarbeiten müssen. Aber ich habe wilde Geschichten gehört: Einer hat Mitarbeiter, die seiner Meinung nach einen Fehler gemacht hatten, zu sich zitiert und sie mitten in der Redaktion vor allen Augen runtergeputzt. Er soll kein gutes Haar an ihnen gelassen haben. Wer so einen Einlauf kassiert hätte, sei fix und fertig gewesen, habe fest damit gerechnet, gefeuert zu werden. Das sei jedoch nie passiert.

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