Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
bisschen weniger: Oh Gott, heut schaffen wir das nicht!
Ich genehmige mir keinen, ich verbiete es mir. Also ertrage ich den Druck, den Puls, den Gedanken an Untergang. Auf schlimme Tage folgen schlimme Nächte. In solchen Nächten sage ich Sachen, die mir nüchtern im Leben nicht über die Lippen kämen. Und ich traue mich Dinge zu tun, die ich bei klarem Verstand niemals täte. Ich gucke eine gute Freundin anders an, als ich sie bislang angeguckt habe. Ich berühre sie wie zufällig unter dem Kneipentisch mit meinem Bein, sie zieht ihres nicht weg. Eine Stunde später liegen wir im Bett, haben Sex. Er ist ein bisschen ungelenk, weil wir betrunken sind. Ab dann ist alles anders zwischen uns, wir gehen auf Abstand, weil eine Beziehung niemals klappen würde, wir uns aber als Freunde nicht verlieren wollen. Ein paar Wochen später sagt einer: «Ich hab den kompletten Filmriss, ich kann mich an nichts mehr richtig erinnern.» Ab dann ist alles wieder gut. Bislang war es nie ich, der so einen Satz gesagt hat. Filmriss. Was soll das sein? Berauscht habe ich viel angestellt, was mir ausgenüchtert unangenehm war und über das ich gern gesagt hätte, ich würde mich nicht daran erinnern. Ich habe mich leider immer erinnert. Bis zu dieser sehr, sehr schlimmen Nacht auf St. Pauli.
Es ist Oktober, ein warmer Herbsttag. Im Herbst bin ich oft deprimiert, weil die Tage immer kürzer werden, das Laub von den Bäumen fällt und ich mir vorstelle, dass es jetzt ungefähr sechs Monate lang duster, kalt und grau bleibt. So sieht es dann auch in mir aus. Ich bin im Sommer geboren, ich liebe den Sommer. Ich hasse den Winter. Irgendwann möchte ich dahin auswandern, wo immer Sommer ist. Der Arbeitstag war nervenaufreibend. Ich habe eine Schlagzeile produziert, die sich gut verkaufen wird, Die 100 wichtigsten Hamburger. Alle Hundert mit Foto, alle mit einer kleinen Begründung, warum sie es in die Liste geschafft haben. Die Leser lieben Rankings. Es war ein zähes Ringen, bei so einer Geschichte kann viel schiefgehen. Vertauschte Bilder, falsch geschriebene Namen, verletzte Eitelkeiten. Wir haben einen Redaktionsrat gebildet, haben einen Leserbeirat dazugeholt, haben uns Namen zugeworfen, gelacht, gegrübelt, gefeilscht, die Listenplätze hin- und hergewechselt. Ich habe wenigstens zehnmal mit der Chefredaktion telefoniert, um über einzelne Platzierungen zu diskutieren.
Halb zehn ist alles fertig. Immer und immer wieder habe ich die Liste kontrolliert. Ich habe keinen Fehler mehr gefunden und bin mir trotzdem sicher, dass mir der gröbste Schnitzer morgen früh beim Zeitungslesen ins Auge springen wird. Das ist schon ein paarmal passiert. Nach vierzehn Stunden Maloche sehe ich nur noch Buchstabensalat auf dem Bildschirm, ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Es soll nur endlich vorbei sein. Bitte, bitte, lass alles gutgehen. Ich mache mich ein bisschen verrückt, beschwöre den Spätdienst, um Gottes willen nichts mehr an der Seite zu ändern, mich im Zweifelsfall anzurufen. Dann verlasse ich die Redaktion.
Mit meinem Freund Lars, früher Journalist, heute Künstlermanager und Event-Veranstalter, bin ich im Christiansen’s zwischen Reeperbahn und Hafenstraße verabredet. Spontan kommt eine RTL-Moderatorin dazu. Sie ist für den nächsten Morgen in meine Redaktion eingeladen, um in der Telefonkonferenz mit der Berliner Chefredaktion eine Blattkritik zu machen. Sie fragt, ob ich ihr ein paar Tipps geben kann, was sie sagen solle und was besser nicht. BILD ist ihr nicht geheuer. Es wundert sie, dass ich da arbeite.
«Sei mal ganz locker, du darfst bei uns alles sagen.»
Die Moderatorin guckt mich an und traut meinen Worten nicht. Wir sprechen ihre Blattkritik durch und trinken. White Indian, das ist mein Spezialmix. Wie der White Russian aus The Big Lebowski , aber mit Espressolikör statt Kahlùa und indischem Rum statt Wodka – dazu kalte Milch, das Ganze auf Eis. Ein Teufelszeug. Teuflisch lecker, teuflisch in der Wirkung. Die ersten vier Runden haben wir ruck, zuck intus. Die Anspannung weicht, meine Laune steigt. Nach der sechsten Runde reden wir nicht mehr vom Job. Mitternacht ist längst rum, über die Aufregung um die Hitliste fange ich mich an zu amüsieren. Ich lache über mich, die Kollegen, die Chefs und die Diskussion darüber, ob ein Buddy der Redaktion nun auf Platz zwölf oder elf stehen müsse.
Was für ein Käse!!!
Ab Runde acht sage ich dem Barkeeper, er möge ungefragt neue Runden bringen, wenn mein Glas zur
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