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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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nicht daran, die nächste Herausforderung erneut zu dramatisieren.

    Die meisten Gestressten sind keine Reinform eines dieser Typen. Ich selbst sehe mich als eine Mischung aus Zyniker und Infarkt-Jäger.

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    Muffensausen
    Viel zu oft
    Es gibt Tage, da traue ich mich nicht vor die Tür. Ich möchte morgens das Bett nicht verlassen, wünsche mir, auf der Stelle krank zu werden, um mich bei denen, die mich erwarten, mit einem aufrichtigen Grund entschuldigen zu können. Es tut mir leid, aber wie Sie vielleicht hören, kann ich kaum sprechen. Ich muss leider absagen.
    Aber ich werde nicht krank. Wahrscheinlich bin ich chronisch arbeitsunfähig, wahrscheinlich würde mir jeder Arzt sofort ein Attest ausstellen, mich zur Kur schicken, auf kalten Entzug setzen. Arbeitsentzug. Von jetzt auf gleich. Oder wollen Sie sterben, Herr Onken? Noch ein Schuss Stress, und Sie kippen um. Wollen Sie das?
    Will ich das? Eigentlich nicht, aber manchmal bin ich mir nicht so sicher. Wie an jenen Morgen, an dem mich die Angst vor draußen befällt. Es passiert meist an solchen Tagen, an denen mir eine besondere Aufgabe bevorsteht. Fast immer eine Aufgabe, die ich mir selbst gesucht habe. Zum Beispiel eine Moderation. Wochenlang habe ich auf eine Sendung oder eine Veranstaltung hingearbeitet. Nun ist er da, Tag X. Und ich hab Muffensausen.
    Aber ich brauchte das. Ein Projekt. Eine Herausforderung abseits der täglichen Routine. Etwas, das mich ablenkt. Ein besonderer Stress, der den gewohnten Stress überlagert. Außergewöhnlicher Stress ist mir immer noch lieber als Alltagsstress. Wenn schon, denn schon. Ohne Stress geht’s ohnehin nicht.
    Am Morgen eines solchen Tages verfluche ich mich dafür, mir dieses Projekt aufgehalst zu haben. Warum machst du nicht einfach deinen Job, Dienst nach Vorschrift? Warum brauchst du obendrauf immer noch eine Extrawurst? In diesem Moment stelle ich mir nichts schöner vor als den Augenblick, in dem ich die Aufgabe bewältigt habe. Ich sage mir, danach wird es dir so gutgehen wie noch nie in deinem Leben. Du stehst vor einer unangenehmen, gewaltigen Herausforderung. Deshalb wirst du hinterher unglaublich erleichtert sein. Es wird sich besser anfühlen als der wunderbarste Geburtstag, den du je gefeiert hast. Das sind Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich morgens im Bett liege und die Angst vor draußen mich aufzufressen droht. Mein Herz jagt, ich bin unerträglich nervös. Ich sehe mich vor der Kamera oder auf der Bühne vor all den Menschen stehen und spüre eine tausendfache Aufmerksamkeit, die sich auf mich richtet. Die Vorstellung macht mich fast irre. Ich, öffentlich zur Schau gestellt als Studienobjekt: Wie reagiert der menschliche Körper auf emotionalen Stress?
    Ich liege auf meiner nassgeschwitzten Matratze und schwanke zwischen dem Wunsch, mich in Luft aufzulösen, und dem Pflichtbewusstsein, nun endlich in die Gänge zu kommen. Was wäre wohl, würde ich heute verschwinden? Einfach nicht mehr da sein, vom einen auf den anderen Moment abtauchen und nie wieder ein Lebenszeichen zu senden? Wann würde der Erste mich vermissen? Und wer wäre das? Vermutlich meine Sekretärin, etwa eine halbe Stunde nach meinem üblichen Arbeitsbeginn. Sie würde mich wahrscheinlich anrufen, mir eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen und sich eine halbe Stunde später erneut melden. Und dann? Im Laufe des Vormittags würde eine kleine Lawine losbrechen. Mein Handy würde im Minutentakt klingeln, bald auch das Festnetztelefon, dessen Nummer kaum einer kennt. Vermutlich würde spätestens mittags jemand vor der Tür stehen. Würde an der Haustür klingeln, sich irgendwann mit Hilfe von Nachbarn Zugang zum Treppenhaus verschaffen, um direkt an meiner Wohnungstür erst zu klingeln und dann zu klopfen. Am Nachmittag würde mein Büro versuchen, meine Eltern oder meine Ex-Frau zu kontaktieren. Einer von ihnen würde mit einem Schlüssel kommen und in meiner Wohnung nach mir sehen. Ich wäre nicht da. Kein Hinweis auf meinen Verbleib. Alles sähe so aus, als hätte ich morgens wie jeden Tag die Wohnung verlassen, um zur Arbeit zu fahren. Am Nachmittag würde die Redaktion die Polizei einschalten. Die täte erst mal nichts. Ich bin erwachsen, es ist mitten am Tag, es gibt keinen Grund, an ein Verbrechen oder Suizid zu glauben. Warum also die Pferde scheu machen? Eine Fahndung würde vielleicht am nächsten Tag anlaufen. Ergebnislos. Einen weiteren Tag später würde ich wahrscheinlich

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