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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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Neige gehe. MEIN Glas, ich bin Taktgeber dieses fröhlichen Gelages. Die Moderatorin kann einiges ab und kennt meist kein Pardon, wenn wir uns treffen. Zechen, bis der Morgen dämmert, darin ist sie Meisterin. Meist breche ich vorzeitig ab oder zusammen. Die Frau schafft mich. Ich finde sie trotzdem klasse.
    Heute will die Moderatorin «vernünftig» sein. So einfach kommt sie mir nicht davon.
    «Vernünftig! Weißte doch janich, wie man das buschdabiert.»
    Sie lacht. Lars lacht. Laut und sehr heftig. Der Barkeeper bringt Runde zehn. Danach ist es kurz nach eins und Schluss für die Moderatorin. Küsschen, Knutscher, Knuddelei.
    «Meine Herren, nen schööönen Abend noch!»
    «Jeichfalls!»
    «Treibt’s nich zu wild, wir sehn uns ja gleich schon wieder!»
    «Das kann ich nich veschbrechen, ausssserdem mussdu ja Blattkritik machen, nich ich, ne?!»
    Die Moderatorin kichert, wedelt zum Gruß mit der Hand und geht zu ihrem Taxi, das seit einer Viertelstunde vor der Bar wartet. Ich bleibe mit Lars sitzen und weiß, dass die Nacht noch lange nicht vorbei ist. Nach Runde dreizehn kann ich nicht mehr zählen. Wahrscheinlich kann ich auch nicht mehr sprechen, nicht mehr denken. Und nicht mehr unter Druck stehen.
    Letzte Erinnerung: An der Theke sitzen zwei Gäste, die sich auf Englisch unterhalten. Quer durch den Raum rufe ich ihnen etwas zu. Absurder Smalltalk.
    Erste Wahrnehmung am Morgen: Ich liege quer im Bett. Ich bin angezogen, Hemd, Hose, Socken, Schuhe – nur mein Sakko fehlt.
    Erster Gedanke: Oh Gott! Wer hat mich hier abgelegt?
    Zweiter Gedanke: Oh Gott! Ich muss in die Redaktion.
    Dritter Gedanke: Ich kann denken! Ich fühle mich nicht so, als ob ich’s könnte, aber es geht!
    Ich stehe auf, spüre mindestens noch zehn White Indian im Blut, sehe mein Sakko am Türgriff vom Gästeklo hängen. Ich hänge mein Sakko abends immer dorthin, ich bin also tatsächlich selbst ins Bett gekrochen.
    Fünfzehn Minuten später sitze ich mit tonnenschwerem Schädel im Taxi und lasse mich in die Redaktion kutschieren. Ich versuche, der Moderatorin eine SMS zu schreiben, die Buchstaben tanzen, ich vertippe mich bei jedem Anschlag. Mir wird schlecht.
    Ich habe im Büro sehr schlimme Vormittage nach sehr schlimmen Nächten erlebt. Irgendwie ist es immer gegangen. Es wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben, wie ich DIESEN Morgen gestemmt habe. Selbst daran kann ich mich nur mehr bruchstückhaft erinnern, so betrunken muss ich noch gewesen sein. Um elf habe ich zwei Konferenzen hinter mich gebracht. Keiner hat sich anmerken lassen, mir mein Rest-Rum-Delirium anzusehen.
    Die Moderatorin kommt. Als sie mich sieht, lacht sie.
    «Oje!», sagt sie.
    Sie macht ihre Blattkritik, alles läuft perfekt. Die nächste Konferenz muss ich zweimal unterbrechen. Mein Magen gibt den Kampf auf. Um halb eins setze ich mich ins Auto (wahrscheinlich dürfte ich noch immer nicht fahren) und düse nach Hause. Ich muss mich hinlegen, nur eine Stunde. Es werden zwei. Danach bringe ich mit letzter Kraft die Zeitungsproduktion hinter mich.
    Lars erzählt mir abends, ich hätte sechzehn Drinks gehabt. Er selbst sei nach Runde dreizehn ausgestiegen. Ich hätte nichts angestellt, für das ich mich entschuldigen müsse. Lars sagt, er habe mich lange nicht mehr so entspannt gesehen.
    Teufelszeug, dieser White Indian. Steckt sogar Gevatter Stress in die Tasche.

[zur Inhaltsübersicht]
    Ruhelos
    Februar 2009
    Es ist Samstag. Redaktionsfrei. Dennoch bin ich um halb acht aufgewacht. Zu früh. Das passiert mir fast jeden Tag. Obwohl ich müde bin, mich gerädert fühle. Mein Schlaf ist vor allem in den Morgenstunden viel zu leicht, schon das kleinste Geräusch lässt mich hochschrecken. Selten finde ich wieder Ruhe.
    Das liegt auch an meinem schlechten Gewissen, das mich martert, sobald ich mal einen freien Tag habe. Mir überhaupt Momente der Ruhe zu genehmigen, fällt mir schon schwer. Dabei arbeite ich oft sonntags, fast immer an Feiertagen. Ostermontag, Pfingstmontag, Einheitstag, zweiter Weihnachtstag, Neujahr. Für einen Sonntag oder Feiertag, an dem ich arbeite, steht mir zum Ausgleich ein freier Tag zu. Wenn ich davon tatsächlich mal einen in Anspruch nehme, plagt mich sofort mein Gewissen. Vor allem unter der Woche. Manchmal traue ich mich kaum aus dem Haus. Da draußen arbeiten sie alle, und du lungerst rum! Gehe ich einkaufen, könnte jemand denken: Ja, hat der denn nichts zu tun? Jemand könnte auch denken: Wohl ein Hartz-IV-Empfänger, der anderen auf

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