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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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der Tasche liegt. Ich bin gerade zu nichts nutze!
    Gedanken an den nächsten Arbeitstag, die nächste Woche katapultieren sich mir ins Hirn, ich zermartere mir den Schädel, wälze anstehende Entscheidungen hin und her, spiele Szenarien durch. Das macht mich nicht ruhiger.
    «Sie haben zu viel Stress», hat meine Ärztin letzte Woche beim Rundumcheck gesagt.
    «Ach?!», sagte ich.
    «Versuchen Sie, häufiger abzuschalten.»
    Ach.
    Ich wünsche mir eine Pille, um die quälenden Gedanken zu verbannen. Meinen Kopf zu befreien. Dieses Gedröhne da oben wegzusperren.
    «Haben Sie es mal mit autogenem Training probiert?»
    «Nein.»
    Ich nehme mir fest vor, das nachzuholen.
    Seit ich leitender Redakteur bin, lasse ich mich alle zwei Jahre durchchecken. Großes Blutbild, Belastungs-EKG, Ultraschall, Lunge, Leber, Haut. Mehr Untersuchungen, als die meisten Ratgeber sechsunddreißigjährigen Männern zur Vorsorge empfehlen. Vermutlich belaste ich meinen Körper überdurchschnittlich. Ich sollte also überdurchschnittlich genau hingucken, was mit ihm passiert – so viel Aufmerksamkeit ist mir mein Wunsch nach Wohlbefinden immerhin noch wert.
    Die Ergebnisse der Medizinchecks sind jedes Mal ein Wunder. Die Werte sind nach Einschätzung meiner Ärztin prima, geben keinen Grund zur Sorge. Ich kann das nie glauben. Wurden die Proben im Labor vertauscht? Sind die Apparate kaputt?
    «Wie kann es sein, dass ich angeblich kerngesund bin, mich aber krank fühle?», fragte ich die Ärztin.
    «Zu viel ungesunder Stress zeigt sich im körperlichen Krankheitsbild oft erst nach Jahren, bei einigen erst nach Jahrzehnten.»
    Oft kämen die Symptome erst, wenn der Gestresste mal loslasse, zum Beispiel während eines längeren Urlaubs.
    «Haben Sie den Eindruck, sich zu viel zuzumuten?», hat sie mich gefragt.
    «Ja.»
    «Passen Sie auf sich auf. Und fragen Sie sich, warum Sie das machen. Lohnt es sich?»
    Nein.
    Dachte ich und bin zur Arbeit gefahren.
    Früher in der Schule bin ich einfach zu Hause geblieben, wenn ich morgens das Gefühl hatte, den Anforderungen des Tages nicht gewachsen zu sein. Besonders nach dem Wechsel aufs Gymnasium in der fünften Klasse hatte ich so eine Phase. Ich tat mich in den Lernfächern schwer, hatte in Mathe gar keinen Durchblick. Schule war in dieser Zeit Bedrohung. Ich bin da ganz selten gern hingegangen. Meine Mutter hat mir Entschuldigungen wegen «Unwohlseins» geschrieben, und ich habe gehofft, dass ich mich am nächsten Tag stärker fühlen würde. Kam es anders, habe ich ein Fieberthermometer an die Bettlampe gehalten und erhöhte Temperatur vorgetäuscht. Nach zwei, drei Tagen Auszeit war ich wieder stark genug, mich der Bedrohung zu stellen.
    Seit ich arbeite, war ich nicht einen Tag krankgemeldet. Obwohl ich mich oftmals gern wegen Unwohlseins abgemeldet hätte. Meine Disziplin überwindet die Magnetkraft des Betts auch an Tagen, an denen ich mich fühle wie der Junge in der fünften Klasse. Bedroht von der Arbeit. Wahrscheinlich wäre es besser, ich würde meinem Bedürfnis nachgeben, die Disziplin mal über Bord werfen.
    «Machen Sie Sport», riet mir die Ärztin.
    Das entlaste Kopf und Körper, sei gut für die Seele.
    Sechs Jahre ist es jetzt her, dass ich gelaufen bin. Ich erinnere mich, wie das tägliche Laufen mir damals half, mit dem sich anbahnenden Ende meiner Ehe umzugehen. Jeder Schritt wirkte gegen die Aggressionen, die Angst und die Traurigkeit. Mein Ziel, einen Halbmarathon zu laufen, war damals die Herausforderung, die ich auch beim Laufen brauchte. Stress, aber positiver. Doch nicht mal drei Monate nach dem Rennen habe ich die Disziplin verloren, bin wieder bequem geworden. Seitdem geht’s mir wieder schlechter. Ob ich bald einen Herzinfarkt bekomme? An einem stinknormalen Samstag wie heute? Ich habe frei, wache aber früh auf und spüre in mir Unruhe. Vielleicht stehe ich gerade im Bad. Zackbumm falle ich um. Vielleicht werde ich gerettet. Vielleicht überlebe ich.
    In mir ist Angst. Ich werde nicht mehr rauchen. Das habe ich ohnehin schon reduziert, vor allem tagsüber.
    Ich muss wieder laufen.
    Gleich morgen fange ich an.
    Auch deshalb, weil es mich immer mehr schockiert, was ich im Spiegel erblicke. Es ist blanker Horror. Stress macht hässlich. Die Gefahr ist groß, zur feisten Qualle zu mutieren. In etwa dieser Reihenfolge stelle ich seit ein paar Monaten fest: Mein Bauch schwillt an, mir wächst ein Doppelkinn, mein Rücken schmerzt, ich gehe wie ein alter Mann, ich bekomme

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