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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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errichtete Hotel in Schuss zu halten, bemüht sich, sein Konzept ohne Werbebudget bekannt zu machen. Es wird dreieinhalb Jahre dauern, bis Tom Fuß fasst.
    Nachdem er mir von diesen und weiteren Rückschlägen berichtet hat, begeistert mich seine Geschichte noch immer. Viele ersinnen im Frust über ihren Alltagstrott Aussteigerphantasien. Leute, die sie umsetzen und sich durchbeißen, bewundere ich.
    «Ich habe mir das nicht so stressig vorgestellt, zahle viel Lehrgeld. Aber es ist nicht mehr diese zermürbende Routine wie in Deutschland. Hier ist jeder Tag anders, mein Stress ist die Ungewissheit, welche Herausforderung mich morgen erwartet. Das ziehe ich dem Stress, den ich durch die Doppelbelastung Radio und Bar hatte, klar vor.»
    Tom ist mein Held.

    Am Abend nach dieser Begegnung wirft sich Nationaltorwart Robert Enke in Deutschland vor einen Zug. Alle deutschen Sender beleuchten den Selbstmord des depressiven Zweiunddreißigjährigen. Tagsüber hatte ich mit meiner Ex-Freundin über Tom gesprochen. Ich hatte gesagt, ich könne seinen Wunsch auszubrechen, den ganzen Jobstress hinter sich zu lassen, gut nachempfinden. Mir gehe es ähnlich. Das erste Mal erzähle ich jemandem von der Belastung, die mich bedrückt. Davon, dass es mir nicht gutgeht, ich unter dem Druck von außen und von mir selbst leide. Es überrascht sie nicht, sie kennt mich lange genug. Sie sagt es nicht direkt, aber ich spüre, dass sie sich um mich sorgt.
    Die Enke-Nachricht erreicht uns wenige Stunden später. Sie trifft uns beide hart. Ich versuche, mir vorzustellen, wie er sich im Moment der Entscheidung gefühlt haben muss. Hat er seinen Abschied vorbereitet, war es eine spontane Tat? Was hat er gedacht, als er seine Frau das letzte Mal geküsst, seine Adoptivtochter das letzte Mal in den Arm genommen, die Haustür hinter sich zugezogen hat in dem Wissen, sie nie wieder zu öffnen? Ich male mir aus, wie sehr er gelitten hat unter dem beruflichen Erfolgsdruck, unter dem Tod seiner leiblichen Tochter. Die Gedanken befremden mich nicht. Dass, was da im Fernsehen über seine düstere innere Welt berichtet wird, erscheint mir gar nicht so weit weg. Ich erschrecke darüber und frage mich, ob ich mir das Leben nehmen würde, wenn sich meine Situation ähnlich zuspitzen würde. Wahrscheinlich nicht. Sicher bin ich mir nicht.
    Ich behalte diese Gedanken für mich.
    Der nächste Tag beginnt sonnig. In mir kreisen noch immer dunkle Bilder. Ich ziehe meine Laufschuhe an und renne los. Für diesen Urlaub hatte ich mir vorgenommen, wieder mit dem Joggen anzufangen. Nach einer halben Stunde bin ich fix und fertig, tapsend und keuchend erreiche ich unser Apartment. Die Finsternis des Vorabends ist vertrieben, jetzt habe ich keinen Zweifel mehr: Eine so ausweglose Situation, in der mir nichts anderes Erlösung zu verschaffen scheint als der Suizid, schließe ich für mich aus.
    Robert Enke geht mir die restliche Urlaubswoche nicht mehr aus dem Kopf. Die Nachricht aus dem kalten Deutschland prägt meine kleine Auszeit vom Stress. Sie will so gar nicht in den warmen, hellen Rahmen passen, den die Insel bietet. Aber sie hilft mir, mich mit dem Gedanken anzufreunden, die Reißleine zu ziehen, wenn sich das Gefühl, vor lauter Arbeit mein Restleben zu verlieren, verschärfen sollte. Versuche, deine Situation nicht auszuhalten, bis nichts mehr geht. Steige aus, solange du die Kraft dazu hast.
    Über diesen Punkt bin ich offenbar schon drüber. Ich fühle mich alle. Ich weiß nicht, ob die Kraft zum Ausstieg reichen würde. Als wir in Hamburg landen, zieht mich der Gedanke an die Rückkehr ins Büro am nächsten Morgen runter. Die Überwindung wird mich eine Menge Energie kosten. Der Rest würde wohl kaum zum Ausstieg reichen. Zumindest jetzt nicht.

[zur Inhaltsübersicht]
    Müde
    Immer
    Hätte ich drei Wünsche frei, ich wünschte mir Schlaf. Schlaf, Schlaf, Schlaf. Morgens bringt mich mein rasendes Herz auf Touren, sonst käme ich kaum in die Gänge. Vormittags ist die Schlagzahl so hoch, dass ich nicht merke, wie müde ich bin. Am schlimmsten wird es nach dem Mittagessen. Dann setze ich mich für eine halbe Stunde in mein Büro und bearbeite Post, zeichne Rechnungen ab, unterschreibe Urlaubsanträge, gucke Bewerbungen durch, beantworte Mails.
    Die schwarze Ledercouch gegenüber meinem Schreibtisch zieht mich magnetisch an. So gern würde ich mich hinlegen, ein bisschen dösen, nur ein paar Minuten. Ich mache es nicht. Ich stelle mir vor, jemand käme rein

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