Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Jahre zuvor Urlaub gemacht hatte. Der Ort hatte von dem Moment an uns gehört. Wir hatten dort gewohnt, gegessen, geschlafen, wir hatten uns dort geliebt. Wir hatten uns dort auch gestritten, hatten unschöne Stunden, vergeudete Tage. Egal. Geblieben ist das Positive.
Nun kehrte ich an unseren Ort zurück. Auf Ibiza schien die Sonne, es war warm, die Menschen um mich herum waren gut drauf. Es gibt dort warmen, weißen Sand und klares, blaues Wasser und ursprünglich geformte Felsen und frischen, sauberen Wind und Palmen und Sträucher. Der Ort ist Zuflucht, Symbol für Frieden, Ruhe, Entspannung. Ich spürte das, und ich erinnerte, was ich dort einmal gehabt hatte und was ich nun nicht mehr hatte. Da, wo ein beruhigendes Miteinander gewesen war, war jetzt Leere. Ich stürzte in ein tieftiefschwarzes Loch.
Ich kehrte an diesen wundervollen Flecken Erde zurück und dachte an die Zeit, als ich das erste Mal hier gewesen war. Ganz und gar gelöst. Es war der Monat, bevor ich bei der Hamburger Morgenpost Lokalchef wurde. Ich war ein bisschen nervös, vor allem aber neugierig und fühlte mich ziemlich stark. Ich hielt mich wegen der Beförderung für bedeutsam. Jetzt stellte ich mir nichts schöner vor, als mich in diesen Zustand von damals versetzen zu können. Ich wollte ihn loswerden, diesen grausam groß gewordenen Stress, diese ganze Verantwortung, diesen unaufhörlichen Druck. Ich wollte hier an diesem friedlichen Ort sein und nicht daran denken, was auf mich zukäme, wenn ich zurückkehren würde zur Arbeit.
Tieftraurig machte mich die Erinnerung an die verklärte heile Welt. Heile Welt. So empfand ich das rückblickend. Ich hielt kaum aus, was jetzt war in der Welt. In mir drin war es kalt und düster.
Ich spürte mehr denn je: Der Stress, den ich habe, ist nicht gut für mich. Er nimmt mir zu viel, er fordert mich zu hart, er macht mich krank.
Melancholika.
So wie vor einem Jahr mit dem warmen Sonnenort geht es mir mittlerweile mit Menschen, mit Musik, mit Filmen, mit Restaurants, sogar mit Essen und Kleidung. Beim Einkaufen im Supermarkt ist es mir passiert, dass ich ein Produkt gesehen habe, das ich mit einem Erlebnis aus der stressfreien Vergangenheit assoziierte, und auf der Stelle Melancholika bekam. Verrückt! Depressiv? Wäre ich depressiv, könnte ich überhaupt noch im Job bestehen? Könnte ich noch entscheiden, kreativ denken, delegieren, standhaft argumentieren, für meinen Sohn da sein, zumindest ab und an mit Freunden feiern?
Manchmal leide ich nur einen Augenblick an Melancholika, manchmal tagelang. Eine Woche ohne gibt es nicht mehr. Physisch könnte der Stress mich schlimmer quälen. Psychisch könnte es kaum massiver kommen. An meinen Tiefpunkten fühle ich mich, als sei ein mir wichtiger Mensch gestorben, als habe meine Freundin mich verlassen, als habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht. Besoffen jemanden überfahren oder so. Die Wahrheit ist: Alles ist gut. Aber das reicht nicht, ich leide. Der Stress ist wie eine Droge, von der ich abhängig geworden bin und nicht loskomme. Die Droge verpasst mir immer wieder einen Kick. Die Kicks waren am Anfang gigantisch, sie wurden mit der Zeit schwächer und schwächer. Also pumpe ich mir eine immer höhere Dosis rein. Je abhängiger ich wurde, desto mehr richtete ich mein ganzes Sein auf die Droge aus. Irgendwann hatte ich mein Leben so auf die Droge eingestellt, dass es mir seitdem fast unmöglich erscheint, von heute auf morgen aufzuhören und in mein altes Leben zurückzukehren. Ich weiß, dass da vieles besser war, aber ich finde nicht den Weg aus meiner Sucht.
Früher habe ich alle Partydrogen ausprobiert. Heute rauche ich nur ab und zu noch mal einen Joint, das entspannt. Meine tägliche Droge ist jetzt der Stress. Er ist der Teufel, der mich mit bunten Pillen füttert. Ihre Wirkung lässt leider so schnell nach, wie sie gekommen ist. Ich weiß, dass ich auf die Glückspillen verzichten sollte. In meinem Leben vor der Sucht ging es mir besser. Und dennoch bin ich nicht in der Lage, den Teufel zu verjagen. Wir kletten zusammen. Auf Gedeih und Verderb.
Fast jeden Tag stelle ich mir dieselben Fragen: Wie lange reicht die Kraft noch? Wann knalle ich durch? Ich leide an Melancholika und habe immer wieder Herzrasen, Druck auf der Brust. Je nervöser ich werde, je mehr spüre ich die Symptome. Die waren früher AB UND ZU da. Jetzt ist all das FAST IMMER da.
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Rücktritte
2010
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