Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
krepieren können?
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Melancholika
Januar 2010
Melancholie ist meine treueste Begleiterin. Sie weicht mir nicht von der Seite. Meine Melancholie lässt sich nichts vormachen von der Lockerheit, die sich immer seltener blickenlässt bei mir. Ihr kann die gute Stimmung nicht imponieren, die ich manchmal habe. Wenn ich mit der Redaktion etwas zu feiern habe, weil wir eine richtig gute Geschichte exklusiv im Blatt hatten. Wenn ich eine tolle Frau kennengelernt und geküsst habe. Wenn ich ein langes Wochenende mit meinem Sohn verbracht habe und mir dabei wieder bewusst geworden bin, was für ein phantastischer Junge er ist. Oder wenn ich mit einem Freund und vielen Drinks eine entspannte Nacht in einer Bar verbringe und am nächsten Tag freihabe.
All das hat meine Melancholie nie gestört. Sie hat sich in diesen seltenen Momenten lediglich ein bisschen zurückgehalten. Nach ein paar Stunden, manchmal auch erst nach ein paar Tagen, hat sie sich wieder gezeigt.
Meine Melancholie ist treu und hartnäckig. Als sie mich die ersten Male befiel, konnte ich sie noch wegweinen. Ich heulte drauflos, manchmal in den Armen meiner damaligen Freundin, manchmal allein. Meist abends oder nachts. Ich lag da und weinte. Nie laut, fast stumm. Es war kein Schluchzen, sondern ein Weinen aus der Tiefe meines Herzens, das sich dabei völlig entspannte. Das half. Es nahm die Last, die mich bedrückte. Licht drang wieder durch. Zumindest für eine gewisse Zeit.
Jetzt kann ich nicht mehr weinen. Ich weiß nicht, woran es liegt. In meinen düsteren Momenten würde ich die Schleusen gern wie früher öffnen. Sie sind verrammelt. Ich erinnere mich nicht, wann ich das letzte Mal geweint habe. Manchmal habe ich das Gefühl, gleich kommt es, gleichgleich. Dann bebt meine Stimme, werden Sätze brüchig. Mal bekomme ich feuchte Augen. Aber das ist kein Weinen. Verbiete ich es mir? Verbiete ich mir die Entspannung? Früher hatte ich keine Angst davor, aufzumachen, loszulassen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Da ist so viel, was sich aufgestaut hat. Da ist meine schnelle Karriere, die Anerkennung durch meine Chefs, da sind die Kicks nach guten Geschichten, das Hochgefühl, die Konkurrenz abgewatscht zu haben. Aber da sind auch die Zweifel. Da ist das Gefühl, mich zu isolieren vom Leben außerhalb des Büros.
Ich glänze bei der Arbeit, ich versage im Restleben.
Mir fehlt die Kraft, beides in Einklang zu bringen. Vielleicht habe ich auch nicht den absoluten Willen. Obwohl mich meine Situation erdrückt.
Ich würde gern alles rausheulen wie früher und kann es nicht. Vielleicht würde ich ersaufen, wenn ich aufmache? Vielleicht würde ich in Trauer um mein verlorenes Restleben versinken? Menschen, deren Lebensumstände dramatisch sind, können an ihrem Elend verzweifeln. Hungernde, dürstende, obdachlose, von allem und allen verlassene Menschen. Aber ich? Ich habe: Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf, Menschen um mich rum, die ich liebe (wie meinen Sohn) und die mich lieben (wie meine Eltern). Und ich kann mir alles kaufen, was ich will. Keinen Maybach, keine Villa, aber das will ich auch nicht. Faktisch ist mein Elend nicht sichtbar. Es ist alles da. Was fehlt, sind anhaltende Zufriedenheit und Lebensglück. Ich habe nur meine Arbeit. Eine Arbeit, deren Bedeutung ich seit langem überhöhe. Ich überhöhe sie, um mich hinwegzutrösten über den Verlust von allem, was nicht mit ihr zu tun hat.
Ich irre umher wie in einem Labyrinth. Auf der Suche nach dem Ausgang zur Erfüllung meiner Bedürfnisse jenseits beruflicher Bestätigung. Über dem einzigen Weg, den ich noch nicht ausprobiert habe, steht ein Wort, das mich gleichermaßen fasziniert und beunruhigt:
KÜNDIGUNG.
Wie lange ich in dem Labyrinth schon umherirre, kann ich nicht sagen. Es fühlt sich lange an, zu lange. Und ich ahnte schon früh, welcher Weg mich zum Ausgang führen könnte. Ich beschritt ihn nicht, weil ich hoffte, noch einen zweiten Weg zu entdecken. Vielleicht auch nur ein Schlupfloch, das ich übersehen habe. Ein Schlupfloch zum großen Glück.
Also suche ich weiter. Je länger ich suche, je breiter macht sich die Melancholie in mir. Ich nenne sie ab jetzt Melancholika. Das hört sich medizinischer an. Wie eine Krankheit, die mich befallen hat, die mit der geeigneten Behandlung aber wieder weggehen kann.
Verdacht auf Melancholika hatte ich das erste Mal vor einem Jahr: Es passierte an einem Ort, an dem ich mit meiner damaligen Freundin
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