Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
funktionieren, habe aber dennoch ein Refugium, aus dem ich neue Kraft schöpfe. Das ist so fernab der Realität, dass ich belustigt über mich selbst staune.
Weil kein Wunder geschieht, bleibt die Sehnsucht, und ich bleibe allein. Ich versuche, meine Bedürfnisse zu kompensieren. Das klappt mehr schlecht als recht, eine intakte Liebesbeziehung lässt sich nicht durch Affären ersetzen. Deshalb beschränke ich mich auf: Vertrautheit und Kuschelkurs. Am besten beides in einem Aufwasch, das spart Zeit und Kraft.
Mein Modell funktioniert so: Ich treffe eine Frau, die ich zumindest ein bisschen kenne. Sie ist ebenfalls Single, sucht auch eine Beziehung, gerät aber dauernd an die Falschen und entwickelt keine Gefühle für die Guten. Ein ähnliches Katastrophengebiet wie meines also. Einziger, aber wichtiger Unterschied: Sie hat weniger Job-Stress. Wir verabreden uns, merken, dass wir uns nicht nur gut verstehen, sondern da auch etwas knistert. Keine Schmetterlinge im Bauch, kein Glücksfeuerwerk – aber ein bisschen Knistern. Wir gründen eine Zweckgemeinschaft als Liebesersatz. Die Vorteile: Wir legen uns nicht fest, gehen keine Verpflichtungen ein. Erwartungen können nicht enttäuscht werden, weil es keine gibt. Ich kann die Frequenz unserer Begegnungen ohne Diskussionen, Erklärungen und Rechtfertigungen auf meinen Terminkalender abstimmen. Da geht’s nicht um große Emotionen, das ist eine ziemlich berechenbare und berechnende Beziehungsform. Wichtig ist, der Affäre nicht zu viel Raum zu geben. Zeitlich nicht und erst recht nicht emotional.
Nachlässigkeit irritiert erst den Partner, dann einen selbst. Es entwickelt sich eine Gewohnheit, die sich nicht entwickeln soll, weil sich sonst mit einem Mal die Frage stellt, ob die Zweckgemeinschaft, die Affäre nicht schon zur festen Partnerschaft geworden ist. Dann ist es schnell vorbei mit dem stressfreien Kuschelbündnis.
An einigen Kollegen und Freunden beobachte ich, wie sich Männer, die lange keine feste Beziehung hatten, trotz gelegentlicher Affären in mehr oder weniger verschrobene Typen verwandeln. Ich beobachte das neuerdings auch an mir. Ich fange an, mein Leben abseits der Arbeit zu ritualisieren. Zum Beispiel: Jeden Dienstagabend stoppe ich auf dem Weg nach Hause immer beim selben Imbiss, bestelle mir immer das gleiche Gericht, esse zu Hause auf der immer selben Sofaecke, zappe immer durch die gleichen Sendungen, habe mit den immer selben ein, zwei Freunden SMS-Kontakt, surfe ein bisschen auf den immer gleichen Seiten im Netz und gehe immer um eins ins Bett.
So ein banales Ritual beruhigt mich, schon nachmittags freue ich mich auf die scharfe Kokossuppe mit Huhn, den TV-Trash, das Bett. Gleichzeitig befremdet mich mein Spleen. Aber er vermittelt mir ein Gefühl von Homebase. Die brauche ich unbedingt, und wenn sie nicht durch Beziehung entsteht, muss ein Placebo her. Allerdings sind solche Rituale tückisch. Sie können von Defiziten ablenken. Wer sich an sie gewöhnt, beginnt, sich mit ihnen zu begnügen. Auch das beobachte ich. Bei anderen. Und im Anflug auch schon bei mir selbst.
Das Verlangen nach einer Homebase wächst, je mehr ich in der Arbeit unter Strom stehe. Die Nest-Sehnsucht befällt mich vor allem dann, wenn ich mir mal wieder bewusst werde, dass es in meinem Leben gerade nicht viel gibt außer Job-Job-Job. Warum verausgabe ich mich bloß so sehr? War ich schon als Kind so? Mit Vollgas ran an eine Aufgabe. Ist sie erledigt, ran an die nächste. Immer so weiter. Keine Pause, keine Erholung. Mir fallen die Gruben ein, die ich als kleiner Junge im Garten meiner Eltern gegraben habe. Das Entsetzen meiner Mutter über das Ausmaß der Löcher. Und mein unbändiger Ehrgeiz, die Löcher dem Erdboden gleichzumachen, bevor mein Vater von der Arbeit nach Hause kam.
Das Buddeln bis zur Verausgabung war eine Phase von ein paar Wochen. Ich erinnere nicht, mich als Kind dauerhaft unter großen Anstrengungen für etwas engagiert zu haben. Aber ich suchte mir ständig Aufgaben. Mit gekauftem Spielzeug konnte ich mich nicht lang beschäftigen. Ich brauchte einen anderen Kick, den mir eher die Löcher auf den Gartenwegen als die Lego-Bausätze im Kinderzimmer gaben. Hat das etwas mit meinem heutigen Arbeitsverhalten zu tun? Vielleicht bin ich fürs Extreme veranlagt.
Klar ist: Meine Liebeslegasthenie ist Folge der Verausgabung. Für den Job gebe ich neunzig Prozent – der kleine Rest muss reichen für meinen Sohn, meine Freunde und mich selbst. Meine
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