Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
irgendwie. Es war kein souveräner Einstand, aber auch keine Katastrophe. Nichts von dem, was ich befürchtet hatte, passierte. Ich hatte den ganzen Tag schwitzige Hände, mir war viel zu warm, ich war unheimlich aufgeregt. Das Adrenalin kitzelte in meinen Adern. Als am Abend mein erster Lokalteil fertig und die Zeitung im Druck war, begann ich dran zu glauben, dass ich es packen würde. Ein kleines Wunder. Warum sollte es sich morgen nicht wiederholen?
Und das tat es. Nach den ersten Wochen hatte ich raus, was das Wichtigste war: Entscheidungsstärke zeigen. Alle paar Minuten kam jemand zu mir, um sich einen Termin, die Zusage für einen Praktikanten, eine Dienstreise, einen Urlaubsantrag, eine Dienstplanänderung, die Recherche eines brisanten Themas, ein Informantenhonorar, die Bestellung eines Kameraobjektivs, eine Fortbildung, Sonderspesen oder die Antwort auf einen wütenden Leserbrief abnicken zu lassen. Alle paar Minuten sollte ich etwas zur Themenplanung sagen, wollte jemand meine Meinung zu einem Seitenlayout oder einem Kommentar hören. Redakteure kamen zu mir, die in ihrer Recherche feststeckten, deren Geschichte geplatzt war oder die etwas gehört hatten, was unbedingt noch ins Blatt musste. Dem Chefreporter gefiel eine von mir redigierte Passage seines Textes nicht, ein Volontär ließ mich wissen, dass seine Informationen die geplante Überschrift nicht bestätigen würden. Jeder kam mit der Erwartung, eine schnelle Antwort zu erhalten. Und alle hatten darauf Anspruch. Egal, ob mir etwas Sinnvolles einfiel, egal, ob ich am Vorabend massiv gefeiert, zu Hause Beziehungsstress hatte oder frisch verknallt und mit meinen Gedanken ganz woanders war, und egal, was der Kollege vor ihm und der Kollege nach ihm von mir wollten.
Entscheidungsstärke. Ich gewöhnte mir an, mehr aus dem Bauch heraus zu entscheiden, den spontanen Impuls aufzunehmen und zur Grundlage meiner Antwort zu machen. Das war die Chance, der Flut von Themen, Anliegen, Bedürfnissen Herr zu werden. Das erhöhte das Risiko einer Fehlentscheidung, aber das war mir lieber, als die Antworten aufzuschieben und damit einen gewaltigen Entscheidungsstau zu verursachen. Und doch passierte es manchmal, dass ich einem Mitarbeiter sagte, ich wisse nicht mehr, wo mir der Kopf stehe. Das war das Bescheuertste, was ich tun konnte. In kürzester Zeit spricht sich das rum. «Überleg dir gut, ob du heute zu ihm gehst, der ist im Vollstress», warnt derjenige die anderen, den ich meinen Druck habe spüren lassen. Das ist an einem einzigen Tag okay, vor allem dann, wenn wirklich mal der Baum brennt. Passiert es häufiger, bekommt der Ruf einen Knacks. Ich habe also trainiert, mir nicht anmerken zu lassen, wenn es mir zu viel wurde. Was bedeutete: den Ärger runterzuschlucken, die Anspannung mit dem Fuß nervös wegzuwippen, die Luft anzuhalten und in Gedanken bis drei zu zählen. Ich hielt das für normal und die Unterdrückung meiner Stress-Symptome für professionell.
Ein Jahr nach meiner ersten Konferenz als Ressortleiter wurde ich stellvertretender Chefredakteur, im Sommer 2006 Chefredakteur. Nun war ich verantwortlich für sechzig Mitarbeiter – Volontäre, Redakteure, Chefreporter, Fotografen, Layouter, Korrektoren, Archivare und Sekretärinnen. Ich war dreiunddreißig und fragte mich erneut, ob das nicht alles viel zu schnell gegangen war.
An meinem ersten Tag als Chefredakteur dachte ich das erste Mal: Ich werde nicht mein ganzes Leben lang Journalist bleiben. Der Druck hatte sich immer weiter erhöht. Alles lag nun an mir. An diesem ersten Tag beschlich mich das Gefühl, als läge der beste Moment in meinem neuen Job bereits hinter mir. Der Moment, in dem ich zugesagt hatte. Unmittelbar danach befiel der Stress meinen Körper, meine Nerven, meine Seele. Die Begeisterung für den Traumjob, den ich ein paar Jahre zuvor gefunden zu haben geglaubt hatte, kannte auf einmal Grenzen. Der Stress wucherte in mir wie ein bösartiges Geschwür. Langsam, aber stetig.
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Big Boss
November 2006
Seit einem knappen halben Jahr leite ich die Redaktion der Hamburger Morgenpost . Der Laden läuft, die Selbstzweifel sind geblieben. Nicht wegen der Fehler, die mir unterlaufen. Bislang war keiner so schwerwiegend, dass andere und auch ich selbst ihn mir nicht verziehen hätten – trotz der hohen Ansprüche an mich selbst. Aber ich merke, dass die Verantwortung mich nicht nur fordert, sondern auch belastet. Der Druck lässt mich nicht los. Es
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