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Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)

Titel: Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Onken
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für meine eigenen Artikel trug. Für die saubere Recherche aller Mitarbeiter der Lokalredaktion die im Zweifelsfall presserechtliche, zumindest aber die journalistische Verantwortung zu übernehmen, bereitete mir Sorgen. Zwar hatte ich selbst nicht viele Böcke geschossen, aber ein paar üble Fehler waren auch mir schon unterlaufen. Etwa ein Jahr zuvor hatte ich eine gewaltige Ente fabriziert, weil ich einem Aufschneider aufgesessen war. Es war die Knastgeschichte eines ehemaligen Häftlings über seinen angeblichen Zellennachbarn, einen Unterstützer der Harburger Terrorzelle. Ich konnte nur überprüfen, dass der Informant tatsächlich zum fraglichen Zeitpunkt eingesessen hatte, und verließ mich beim Rest auf mein Bauchgefühl. Es hatte mich getäuscht, die Behauptungen waren frei erfunden. Ich wäre beinahe kollabiert, als ich das erfuhr. Nie wieder, schwor ich mir, würde ich eine Geschichte veröffentlichen, die ich nicht gegenchecken konnte.
    Was, wenn mir demnächst ein Mitarbeiter unabsichtlich so ein Märchen unterjubeln würde? Ich verbannte den Gedanken und dachte an den Kick, den mir der Aufstieg bescheren würde.
    Nachdem der Chefredakteur mir wie vermutet den Job angedient und ich zugesagt hatte, fragte ich mich, ob und wie ich in der künftigen Rolle bestehen würde. Dass mir die Leitung des wichtigsten Ressorts der Zeitung frei jeder Skepsis zugetraut wurde, wunderte mich. Selbst hielt ich mich für noch nicht so reif, ich war erst gut drei Jahre Redakteur. Dass andere es anders sahen, gab mir Sicherheit und Zuversicht. Ich ahnte aber auch: Die Belastung, der Stress würden zunehmen. War ich dafür geschaffen, würde ich das aushalten, würde ich mir Auszeiten gönnen? Ich dachte an meine gescheiterte Ehe, an Samy. Würde ich dann überhaupt noch Zeit für ihn haben? Über die Antworten machte ich mir keine Gedanken. Stellten die Chefs meine Neupositionierung nicht in Frage, sollte ich es auch nicht tun.
    Mir schmeichelte die Beförderung, gleichzeitig flößte mir der Gedanke, der Belegschaft bald schon sagen zu sollen, wo es langgehe, Höllenrespekt ein. Je näher der Tag rückte, an dem ich beginnen sollte, desto mehr bemühte ich mich, mich nicht verrückt zu machen. Es gelang mir immer weniger.
    Werden die gestandenen Redakteure mich akzeptieren?
    Kann ich das wirklich?
    Was, wenn nicht?
    Was, wenn alle es merken?
    Wenn sie hinter meinem Rücken über mich lästern?
    Wenn ich keine Antworten auf die Fragen meiner Mitarbeiter finde?
    Wenn ich falsche Entscheidungen treffe?
    Wenn ich keinen Weg finde, meine Leute zu führen?
    Soll ich streng sein oder locker?
    Lasse ich die Guten machen, nehme ich die Schlechten an die Leine?
    Bitte ich, fordere ich, oder ordne ich an?
    Mahne ich ab, wenn jemand Mist baut?
    Mal so, mal so – je nach Gefühl und Situation?
    Auf die Antworten verzichtete ich erneut. Einmal sprach ich mit meinem baldigen Vorgänger darüber. «Mach dir keinen Kopf. Du kannst das, den Rest lernst du, glaub mir.» Ich versuchte es.
    Zwar hatte ich mit einunddreißig Jahren bereits einen vierjährigen Sohn, eine Frau (auch wenn sie die Scheidung eingereicht hatte) und ein Mittelreihenhaus. Aber ich fühlte mich nicht so gesettelt, wie es der Rahmen vermuten ließ, im Gegenteil: je wilder eine Party, desto besser gefiel sie mir. Wenn sich die Gelegenheit ergab, rauchte, schluckte oder schniefte ich noch immer gern Verbotenes. Mit Kollegen und Freunden machte ich auf dem Kiez ab und an einen drauf, ohne an den nächsten Morgen zu denken. War so jemand der Richtige für einen derart verantwortungsvollen Job?
    Schon als Reporter plagten mich in Abständen einiger Wochen Selbstzweifel. Kritisierte mich jemand, nahm ich mir das sehr zu Herzen. Es kam sogar vor, dass ich mich deshalb fragte, ob ich den richtigen Beruf gewählt hatte. Als Chef würde ich weitaus mehr im Fokus stehen, meine Entscheidungen und Fehler hätten eine deutlich größere Tragweite, ich würde viel häufiger kritisiert werden. Ich ahnte, dass mir das zu schaffen machen würde, schob die Gedanken aber beiseite. Die Chance war viel zu aufregend; für ein paar Tage und Nächte überwog die Vorfreude, dann wurde ich wieder unruhig. Noch sechs Wochen bis zum Start.
    Vor der ersten Morgenkonferenz, die ich leiten sollte, war ich schrecklich nervös. Ich hatte Angst, dass meine Stimme beben, ich Schweißausbrüche bekommen und mich verhaspeln würde. Ich hatte Angst, dass ich kein Chef sein kann. Erstaunlicherweise ging es

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