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Bis Sansibar Und Weiter

Titel: Bis Sansibar Und Weiter Kostenlos Bücher Online Lesen
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sprudelte es aus Linda heraus. »Echte Herbstkirschen. Die musste ich einfach haben, verstehst du?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Wo wir früher gewohnt haben, gab es auch einen Kirschbaum. Da hab ich immer die Herbstkirschen runtergeholt. Verstehst du jetzt?«
    Wieder schüttelte ich den Kopf.
    »Dann eben nicht«, sagte sie und band ihren Pferdeschwanz neu. »Wieso hast du eigentlich so rumgebrüllt? Kletterst du nie auf den Baum?«, fragte sie.
    Ein drittes Mal schüttelte ich den Kopf. Sprechen konnte ich nicht. In meinem Hals saß ein faustdicker Kloß, der einfach nicht verschwinden wollte. Nie würde ich auf einen Baum steigen, nie im Leben. Bäume waren gefährlich, Bäume brachten den Tod.
    »Wieso nicht?«, fragte Linda.
    Ich zeigte auf DDs Bild.
    »Wegen dem?«, fragte sie. »Wer ist das eigentlich?« »Mein Vater«, flüsterte ich. »Er ist tot.«
    Sie setzte sich neben mich. »Ist... er... von dem Baum da gestürzt?«, fragte sie zögernd.
    Ich nickte. »Beim Kirschenpflücken. Aus der Krone. Durch sieben Äste.«
    »Tut mir Leid«, murmelte sie.
    »Ist lange her«, sagte ich.
    »Spricht deine Mutter mit dem Bild?«, fragte sie, nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen hatten.
    Ich hätte gern Lindas Hand genommen, aber ich traute mich nicht. Und sie merkte wahrscheinlich nicht, dass ich es gern gehabt hätte.
    »Glaubt sie echt, dein Vater hört sie?«, fragte sie weiter.
    »Weiß nicht«, sagte ich und stand auf. Meine Beine trugen mich wieder, auch der Schwindel war verschwunden. »Komm, lass uns Mathe üben.«
    Während der Nachhilfe war Linda nicht bei der Sache. Egal was ich versuchte, sie schien mir nicht zuzuhören. Und genau das sagte ich ihr, nachdem wir uns eine halbe Stunde lang mit Textaufgaben rumgequält hatten.
    »Ich höre dir nicht zu?«, rief sie. »Stimmt ja gar nicht!«
    »Stimmt wohl! So kommst du nie auf ’ne Vier!«
    »Weil du nicht erklären kannst!« Ihre Stimme wurde lauter.
    »Bis jetzt hat’s bei mir noch jeder kapiert!«
    »Willst du damit sagen, dass ich zu blöd bin?«
    Am liebsten hätte ich »ja« gesagt. Aber so bin ich nicht erzogen.
    »Willst du sagen, dass ich zu blöd bin?«, wiederholte sie, und in ihre Stimme kroch ein Unterton, der mich hätte warnen müssen.
    Ich öffnete den Mund, um »nein« zu sagen, da traf mich eine Ohrfeige, die mich aufs Bett schleuderte. Bevor ich reagieren konnte, zog mich Linda am Kragen hoch und verpasste mir eine zweite, noch heftigere Ohrfeige.
    »Bist du verrückt?«, rief ich. Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken, mein Schädel brummte, sonst spürte ich keinen Schmerz.
    »Gefällt dir das?«, brüllte Linda zurück.
    »Gefallen?«
    »Warum wehrst du dich nicht?«, brüllte sie weiter. Mann, ich hatte ihr nichts getan, überhaupt nichts! Im Gegenteil, ich hatte bloß versucht, ihr Textaufgaben beizubringen!
    »Wehren? Warum...?«, begann ich.
    »Was ist eigentlich los mit dir?«, unterbrach sie mich. »Hast du keine Eier?«
    Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich mich wegen ihr mit drei Jungs geprügelt hatte. Dass mir davon noch immer die Faust wehtat. Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich nicht gelernt hatte, ein Mädchen zu schlagen, und dass ich das auch gar nicht lernen wollte.
    Aber ich kam nicht dazu. Denn in diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Es war meine Mutter. Ihre Haare hätten inzwischen eine Wäsche vertragen. Und sie hätte sich ruhig was anderes als ihren alten Bademantel anziehen können.
    »Was ist denn hier für ein Krach?«, fragte sie, nachdem sie Linda begrüßt hatte. Ich hatte mich schnell wieder an den Schreibtisch gesetzt.
    »Mir ist was runtergefallen«, log ich.
    »Ihr habt laut geschrieen«, sagte meine Mutter. »Ich hab’s genau gehört.«
    »Das war nur Spaß«, sagte Linda.
    »Ach so.« Mama nahm Linda an die Hand. Die ließ es geschehen. »Soll ich dir zeigen, wo ich arbeite?«, fragte sie.
    Damit verschwanden die beiden. Mich ließen sie zurück – mit brennenden Backen und einem Brummschädel, der gar nichts mehr kapierte.
    Linda war verrückt, ich hätte es vom ersten Tag an wissen müssen. Wenn ich ihr weiter Nachhilfe gab, würde sie mir irgendwann die Zähne ausschlagen, die Haare ausreißen oder die Zunge abschneiden. Ich musste sie loswerden, unbedingt. Ich hatte nicht die geringste Lust auf ein Gebiss, eine Perücke oder einen Sprechcomputer. Außerdem: Wieso war ich ein Weichei, wenn ich mich nicht mit jedem schlug, der mir blöd kam? Warum hatte ich keine Eier, wenn ich

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