Bis Sansibar Und Weiter
überhaupt nicht.
Als Linda sich verabschiedete, konnte ich mir die Frage doch nicht verkneifen: »Warum bist du gestern abgehauen?«
Sie spielte mit ihrem Pferdeschwanz. »Ich musste zum Abendessen«, antwortete sie.
»Blödsinn«, sagte ich.
»Mein Vater wartet nicht gern«, sagte sie.
»Hör doch auf!«, rief ich. »Du hast Schiss gekriegt!« Jetzt schaute sie vor sich auf den Boden. »Stimmt«, murmelte sie. »Ich hab Angst gehabt, sie tun es wieder.« »Dich ausziehen?«, fragte ich.
Linda nickte.
»Ich hätte dich verteidigt«, sagte ich.
»Du?« Sie lachte. »Entschuldige, Marius, das ist nicht dein Ernst!«
Bevor ich sie fragen konnte, ob sie denn nicht gesehen hätte, wie ich mich mit den drei Riesen geprügelt hatte, lief sie schon nach draußen, sprang auf ihr Rad und fuhr davon.
An diesem Abend tat ich etwas, was ich noch nie getan hatte. Ich holte einen Gartenstuhl aus dem Keller und setzte mich vor den Kirschbaum.
DDs Bild hing ein bisschen schief, auf dem Rahmen waren Spuren von Lippenstift und Vogelscheiße zu sehen. Vom Feld blies ein kräftiger Wind herüber. Er brachte die bunten Blätter über mir zum Schaukeln.
»Hör zu, DD«, begann ich und brach ab. Was war, wenn mich jemand beobachtete? Den kleinen Matheartisten, wie er mit einem Baum redete? Wenn sich das in der Straße rumsprach? Wenn die aus meiner Klasse davon erfuhren?
»Hör mir zu, DD«, begann ich erneut und senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Mama geht es nicht gut. Das liegt nur daran, weil du nicht mehr kommst. Erst fällst du vom Kirschbaum und brichst dir das Genick. Und dann verdrückst du dich, wenn sie dich braucht. Ja, spinnst du denn? Sie ist traurig, Mensch, sie steht nicht mal mehr auf! Acht Jahre hast du mit ihr geredet. Ist es denn zu viel verlangt, dass du das weiter tust? Ich komme ganz gut ohne dich klar. Aber sie schafft das nicht. Sie.., schafft.., das.., nicht!«
Dann erzählte ich von Mama. Von ihrer Arbeit. Von Linda und von Lennart und seinen Freunden. Ich erzählte von Stratmann, vom Metzger und von Frau Dollhase-Roggenfeld. Ich erzählte von Pia und Maren und Paul, meinem Banknachbarn. Je länger ich redete, desto mehr spürte ich, wie gut mir das tat. Obwohl vor mir nichts als ein alter Kirschbaum stand, wusste ich, dass mir in diesem Moment jemand zuhörte. Ob es DD war? Keine Ahnung.
Irgendwann schaute ich auf die Uhr. Es war eine Stunde vergangen. Ich stand auf und klappte den Stuhl zusammen. »Jetzt weißt du Bescheid«, sagte ich. »Überleg dir, was du tust. Aber lass Mama nicht im Stich. Red wieder mit ihr, ja?«
Kaum hatte ich aufgehört zu sprechen, fiel ein Blatt vom Kirschbaum. Langsam schaukelte es zu mir herunter, flog eine elegante Kurve und landete vor meinen Füßen.
»Danke«, sagte ich. »Danke, Papa.«
Meine Mutter war inzwischen aufgestanden. Sie saß in ihrem geblümten Bademantel in der Küche und las in einem Kochbuch. Lesen geht bei ihr besser als Rechnen. Viel besser.
»Wollen wir zusammen kochen, Marius?«, fragte sie. »Klar«, sagte ich.
»Chinesisch?«
»Aber logo.«
In der nächsten Stunde kochten wir ein Wokgericht mit Bambussprossen, Paprika, Möhren und Kohlrabi. Weil wir kein Hühnerfleisch hatten, nahmen wir den klein gewürfelten Speck, den ich im Kühlschrank fand.
Über das Gericht goss ich Soyasauce und vermischte alles mit einem dicken Löffel höllisch scharfer Currypaste. Dann stellte ich zwei Kerzen auf den Tisch und holte das gute Geschirr und bunte Servietten aus dem Schrank.
Es schmeckte fantastisch. Doch meine Mutter aß nur einen halben Teller Gemüse und fast gar keinen Reis. Trotzdem: Vielleicht war das ein Anfang, vielleicht würde es ihr ab jetzt mit jedem Tag besser gehen.
Bevor ich ins Bett ging, besuchte ich sie in ihrem Arbeitszimmer. Sie saß vor einem großen Blatt Papier. Zuerst dachte ich, es sei leer. Aber dann entdeckte ich oben rechts einen kleinen Vogel. Er hatte einen roten Bauch und einen schwarzen Kopf.
»Ist das ein Dompfaff?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«
An diesem Abend schlief ich erst spät ein. Fühlte sich Mama so einsam wie der kleine Vogel auf dem großen Blatt Papier? Sah es in ihr so schwarz aus wie die Federn auf seinem Kopf? Niemals würde ich DD ersetzen können, niemals. Aber wie konnte ich ihr helfen?
In der Nacht träumte ich von Linda. Wir lagen unter unserem Kirschbaum im hohen Gras und guckten in den Himmel. Der Himmel war blutrot und statt einer Sonne
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