Bis unter die Haut
plötzlich wie angewurzelt stehen und lässt sich auf eine der Stufen sinken. Stumm starrt sie auf das halb auseinandergebaute Bücherregal. Der Schraubenzieher, der Schraubenzieher, liegt etwa einen halben Meter daneben. Wie hatte sie nur vergessen können, was sie hier unten erwartet?
»Was ist?« Guy setzt sich neben sie.
Sie schüttelt den Kopf. Wieder wartet sie darauf, von Gefühlen überwältigt zu werden, den inneren Schmerz kaum auszuhalten, aber genau wie vorhin an der Unfallstelle empfindet sie gar nichts. Warum lechzt sie nicht nach ihrer Rasierklinge, warum lässt sie alles so seltsam kalt? Sie sieht Guy an und ist bestürzt darüber, wie unglaublich ihn dagegen der Anblick mitzunehmen scheint. Mit aschfahlem Gesicht starrt er auf den Schraubenzieher.
»Hey?« Sie stupst ihn sanft an. »Guy, hey, alles okay mit dir?«
»Ich weiß es nicht.« Er wendet den Blick von dem Schraubenzieher ab und sieht sie an. »Ich weiß nur, dass die Vorstellung, dass du dich damit … dass du … keine Ahnung, das ist mir gerade einfach eine Nummer zu heftig.«
»Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht bitten sollen, mich hierher zu bringen.« Sie streicht ihm zärtlich die Haare aus dem Gesicht. »Ich dachte nur … nein, eigentlich hab ich gar nichts gedacht.« Sie schüttelt den Kopf. »Vielleicht hat es irgendwas mit David zu tun. Ich meine, wie er sich gefühlt hat, als er das letzte Mal hier war, und wie er nachts heimlich weint … Vielleicht wollte ich herausfinden, ob es mir ähnlich geht. Ach, keine Ahnung. Ich hab so lange nicht geweint, dafür gesorgt, dass ich nicht weinen kann , dass ich nur so viel fühle, wie ich gerade ertragen kann. Warum sollte ich es jetzt auf Knopfdruck einfach so anknipsen können?« Sie vergräbt den Kopf in den Händen.
Schweigend legt Guy ihr den Arm um die Schultern.
»Vielleicht musste ich ja herkommen, damit ich Markie begegnen kann«, sagt Willow und sieht ihn an. »Vielleicht war das der Sinn.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich meine, ich wusste natürlich nicht, dass ich sie treffen würde, aber … keine Ahnung. Verdammt … Pass auf, ich werfe jetzt den Trockner an, hol mir den Bulfinch und dann … ich weiß nicht, sollen wir warten, bis es aufhört zu regnen, bevor wir in die Stadt zurückfahren?«
»Okay. Na ja, zumindest, bis die Wäsche trocken ist. Aber bist du sicher, dass du hier fertig bist?«
»Ich weiß ja noch nicht einmal, warum ich überhaupt hergekommen bin.« Sie steht auf, geht in den Waschkeller und steckt die Sachen in den Trockner. »Das dauert jetzt erst mal eine Weile«, sagt sie, als sie das Programm startet. »Komm, lass uns erst mal wieder nach oben gehen und, ich weiß auch nicht …«
Frustriert steigt sie die Treppe hinauf. »Willst du so lange hier warten?« Sie zeigt auf das Wohnzimmer. »Ich geh mir nur schnell den Bulfinch aus dem Arbeitszimmer meiner Eltern holen …« Sie möchte nicht, dass Guy mitkommt, weil sie nämlich noch etwas anderes mitnehmen will, und zwar für Guy, und es soll eine Überraschung werden.
»Bist du sicher, dass du das alleine schaffst?«
»Mir geht es gut … Ich will nur … Schau mal.« Sie führt ihn ins Wohnzimmer. »Das hier ist immer mein absoluter Lieblingsleseplatz gewesen.« Sie setzt sich auf die mit Kissen gepolsterte Fensterbank und klopft neben sich. »Du machst es dir jetzt ein bisschen gemütlich hier, und ich bin gleich wieder zurück, okay?«, sagt sie mit einem kleinen Lächeln.
»Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst«, antwortet Guy, als sie wieder aufsteht.
Während Willow den Flur zum Arbeitszimmer entlanggeht, fragt sie sich, wie es sich anfühlen wird, nach all der Zeit zum ersten Mal wieder den Raum zu betreten, der so sehr vom Geist ihrer Eltern erfüllt ist. Als sie die Tür öffnet und die deckenhohen Bücherwände und die beiden massiven Schreibtische mit den Schreibunterlagen aus burgunderrotem Leder betrachtet, wird ihr jedoch klar, dass es sie genauso kalt lässt wie alles andere bisher.
Sie geht zu dem Regal, in dem der Bulfinch steht, und zieht ihn heraus. Dann sucht sie noch ein paar der anderen Regalreihen ab, bis sie Traurige Tropen gefunden hat. Sie weiß, dass David sie umbringen wird, sollte er jemals herausfinden, dass sie das Exemplar ihres Vaters – dazu noch eine Erstausgabe in einwandfreiem Zustand – hergegeben hat. Aber sie kann sich nicht vorstellen, dass das in absehbarer Zeit passieren wird. Außerdem ist sie sich sicher, dass dieses Geschenk Guy
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