Bis unter die Haut
wirklich etwas bedeuten würde. Und sie möchte ihm unbedingt etwas ganz Besonderes schenken.
Sie schlendert noch einen Moment lang durch das Zimmer, nimmt hier und da ein Buch in die Hand und blättert zerstreut darin. Alles ist von einer feinen Staubschicht bedeckt, der wie Sand auf einer Ausgrabungsstätte liegt, und sie hat das Gefühl, dass das irgendwie zum Haus ihrer Eltern passt. Sie setzt sich an den Schreibtisch und blättert in den Papieren auf der Schreibunterlage, fragt sich, von wehmütiger Neugier erfasst, womit ihre Eltern sich in den letzten Tagen ihres Lebens wohl beschäftigt haben.
Es ist nichts Besonderes – ein paar Notizen in der kaum lesbaren Handschrift ihres Vaters, ein paar Belege, und ein Zettel, auf dem in der steilen Schrift ihrer Mutter eine an die Zugehfrau gerichtete Nachricht steht:
Hannah,
vielen lieben Dank, dass Sie so lange geblieben und mir bei der Party behilflich gewesen sind. Ich weiß nicht, wie ich das alles ohne Sie geschafft hätte! Staubsaugen ist heute nicht nötig, aber könnten Sie bitte daran denken, den mit Kalzium angereicherten Orangensaft zu besorgen, wenn Sie einkaufen gehe n ?
Kalzium ist ganz, ganz wichtig für Willow!
Willow steckt den Zettel ein. Es ist zwar nur ein Stück Papier, nichts wirklich Bedeutungsvolles, aber sie hat das Bedürfnis, es sich als Andenken in ihrem Zimmer bei ihrem Bruder auf ihren eigenen Schreibtisch zu legen.
Sie nimmt den Zettel und die beiden Bücher und verlässt das Arbeitszimmer. Bevor sie ins Wohnzimmer zurückkehrt, verstaut sie Traurige Tropen noch schnell in ihrem Rucksack.
»Was liest du da?«, fragt sie Guy, der immer noch auf der Fensterbank sitzt und in einem Buch blättert.
»Du hast nicht übertrieben, als du gesagt hast, deine Eltern hätten Tausende von Büchern«, sagt er und deutet auf die Bücherregale.
Willow setzt sich neben ihn und schaut auf den Titel. »Oscar Wilde. Den mag ich ganz gern. Ich wette, dein alter Hauslehrer hat dir jede Menge von ihm zu lesen gegeben.«
»Was ist das?« Guy hat den Zettel bemerkt, der auf dem Bulfinch in ihrem Schoß liegt.
»Ach, nur so eine Notiz, die meine Mutter geschrieben hat … nichts wirklich Wichtiges.« Sie zuckt mit den Achseln. »Ich … Es tut mir leid, dass ich dich überredet hab, mit mir herzukommen. Ich hab dir heute ziemlich viel zugemutet, du hast sogar die Schule dafür geschwänzt, und … und wahrscheinlich fragst du dich, warum wir überhaupt hergekommen sind, weil es mir eigentlich nicht wirklich etwas gebracht hat. Aber vielen Dank, dass du es getan hast.«
»Ach komm, du brauchst dich doch nicht bei mir zu bedanken.« Guy nimmt den Zettel, der immer noch auf dem Bulfinch liegt. » Kalzium ist ganz, ganz wichtig für Willow! «, liest er.
Ihr ist nicht klar, dass sie weint, bis Guy die Hand hebt und ihr sanft die Tränen fortwischt. Und in dem Moment weiß sie, dass sie, was ihren Bruder betrifft, recht hatte – es braucht unglaublich viel Stärke, dieses Gefühl der Trauer zuzulassen, und sie weiß nicht, ob sie es erträgt, weil es unglaublich wehtut, mehr als jede Rasierklinge es jemals könnte. Wie kann etwas eigentlich so Belangloses wie dieser Satz auf dem Zettel in ihr etwas auslösen, was weder der Besuch an der Unfallstelle noch das Wiedersehen mit dem Ort, an dem sie ihren unheilvollen Pakt mit dem Schraubenzieher geschlossen hat, auslösen konnten?
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ihr von Neuem klar geworden ist, dass sie nie wieder jemandes Kind sein wird, als Guy den Satz vorgelesen hat. Niemand wird sich jemals wieder so fürsorglich um sie kümmern, wie ihre Eltern es getan haben. Diese Art von Bindung wird sie erst wieder erfahren, wenn sie selbst eines Tages Mutter ist. Aber selbst dann würde sie ihre eigene Mutter noch brauchen, und sie wird nicht da sein, sie wird nicht da sein, weil sie tot ist. Tot. Jahrzehnte zu früh.
Und sie ist erstaunt, wirklich erstaunt darüber, dass die Rasierklinge sie so lange und so zuverlässig betäuben konnte, denn das, was sie jetzt fühlt, ist so überwältigend, so übermächtig , dass es viel, viel mehr brauchen würde als ein paar Schnittwunden, um es auszuhalten.
Sie hält sich den Bauch, weil sie Angst hat, dass sie sonst vor lauter Schmerz auseinanderbricht. Guy sagt nichts, er streicht ihr nur ab und zu die Haare aus dem Gesicht oder streichelt ihr über die tränennassen Wangen.
»Ich … Ich bin … Ich bin nie wieder jemandes Tochter!«, stammelt sie von
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