Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
Vom Netzwerk:
Verband noch hält, aber stattdessen wickelt er ihn ab und betrachtet die Wunden.
    »Es sieht abstoßend aus«, stellt er mit nüchterner Stimme fest.
    Willow reißt ihren Arm zurück. Sie kann nicht glauben, dass er das gerade gesagt hat, und sie kann nicht glauben, dass es sie so trifft. Sie weiß, wie hässlich die Schnitte sind, und seine Meinung interessiert sie überhaupt nicht, und trotzdem ist sie unendlich gekränkt. Gekränkt und verletzt. Es ist fast so, als hätte er gesagt, er fände ihr Gesicht abstoßend.
    Er reißt den Blick von ihren Verletzungen los und sieht sie an. »Um noch einmal darauf zurückzukommen, was ich vorhin gesagt habe …« Er räuspert sich. »Ich hab deinen Bruder wirklich angerufen, aber nicht nur, um ihn zu fragen, wann du arbeitest.«
    Sie ist wie gelähmt. Hat er es David etwa doch erzählt? Sie bringt keinen Ton heraus, aber Guy spricht unbeeindruckt weiter.
    »Ich hab ihn gestern Abend angerufen, nachdem ich von dir weg bin. Ich hab’s wirklich getan.« Er fängt an, mit den Fingern auf den Boden zu trommeln. »Aber ich hatte keine Ahnung, was ich sagen soll. Nachdem ich ein paar Sekunden in den Hörer geatmet hab, hab ich einfach wieder aufgelegt.« Er stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich wollte es ihm erzählen, aber … ich musste die ganze Zeit daran denken, was du gesagt hast. Dass es ihm das Herz brechen würde. Was, wenn du recht hast? Ich meine, ich glaube nicht, dass er deswegen komplett zusammenbrechen würde, aber was, wenn ich damit doch irgendetwas auslösen würde … keine Ahnung, was. Und was wäre, wenn ich es ihm erzählen würde und du völlig zusammenbrechen würdest? Wenn du dich selbst so schlimm ritzen würdest, dass … also, ich meine, schlimmer, als du es jemals zuvor getan hast?« Er wählt seine Worte mit Bedacht. »Außerdem hatte ich es dir versprochen.« Er greift wieder nach ihrer Hand. Dieses Mal hält er den Blick auf ihr Gesicht gerichtet, während er ihren Arm wieder verbindet und den Ärmel herunterrollt. »Und dann hab ich mir einfach gesagt – auch wenn es wahrscheinlich Quatsch ist –, dass du zwischen unserem letzten Treffen und jetzt keine Gelegenheit haben würdest … es zu tun. Dass dir nichts passieren könnte. Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, wann du es tun könntest. Bestimmt nicht, wenn dein Bruder und seine Frau zu Hause sind, und schon gar nicht in der Schule.«
    Der Gedanke an die Mädchentoilette blitzt in Willows Kopf auf, aber sie sagt nichts.
    »Jedenfalls«, fährt Guy fort, »schwanke ich ständig zwischen dem Gefühl, dass ich es ihm sagen müsste, und dann wieder denke ich, dass es ein totaler Fehler wäre. Ich hab die ganze Nacht wach gelegen und mich gefragt, was ich tun soll.«
    Jetzt weiß sie, warum er diese dunklen Augenringe hat. Er sieht total fertig aus, und sie fühlt sich plötzlich mies. Sie wollte doch nie jemand anderem wehtun.
    »Darf ich dich etwas fragen?« Er wirkt ängstlich, als hätte er Angst vor ihrer Reaktion.
    »Frag einfach.« Willow hat das Gefühl, dass sie sich nicht mehr vor Guy verstecken muss. Es ist nicht so, als säße sie mit Laurie und den anderen Mädchen auf der Schulwiese. Sie muss keine Angst haben, irgendetwas Falsches zu sagen, muss nichts vortäuschen.
    »Warum tust du es? Ich will nicht wissen, warum du so unglücklich bist, ich glaube, das hab ich mittlerweile kapiert. Mich interessiert, warum du ausgerechnet darauf gekommen bist, dich zu schneiden. Du hättest doch auch etwas anderes tun können.«
    Willow nickt nachdenklich. Sie hätte wissen müssen, dass diese Frage kommt. Genau das hätte sie selbst auch als Erstes gefragt. »Das ist nicht so einfach zu erklären.«
    »Als wir hierher gelaufen sind …«, fängt Guy an, verstummt dann und senkt den Blick.
    »Ja?«, fragt Willow leise.
    »Ich hatte Angst, dass Laurie etwas sagen könnte, dass dir wehtut. Aber am Ende bin ich es gewesen, der dir wehgetan hat. Ich meine, als ich dir erzählt hab, dass ich in dem Vortrag deiner Eltern war. Ich bin derjenige gewesen, der das Falsche gesagt hat.« Er klingt, als sei er von sich selbst enttäuscht.
    »Das Falsche gibt es gar nicht«, sagt Willow. Und meint es auch so. Sie kann selbst nicht sagen, was es ist, das sie nach der Rasierklinge greifen lässt. »Das Richtige auch nicht.«
    Er denkt einen Moment lang darüber nach. »Darf ich dich noch etwas fragen? Kannst du mir sagen, wo du es tust? Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, obwohl ich es gar nicht

Weitere Kostenlose Bücher