Bis unter die Haut
Deswegen ist das, was du getan hast, ja auch so besonders.«
Willow schweigt.
»Du hast ihr geholfen«, sagt Guy leise. »Das hättest du nicht tun müssen. Also erzähl mir nicht so einen Scheiß von wegen, du könntest einfach so tun, als ob nichts passiert wäre, weil es nämlich nicht stimmt. Hör zu, ich muss jetzt los.« Er steht auf. »Ruf an oder lass es bleiben. Vielleicht findest du ja auch noch eine andere Lösung, mit deinen Problemen fertig zu werden, als dich in Stücke zu schneiden.« Er sieht aus, als würde er noch etwas hinzufügen wollen, verzieht dann aber nur den Mund zu einem schiefen Lächeln und geht zum Aufzug.
Die Türen schließen sich und Willow bleibt allein zurück. Sie knüllt den Zettel mit seinen Nummern zu einem kleinen Ball zusammen und wirft ihn so weit weg, wie sie kann.
Sie wird sich auf keinen Fall von ihm kontrollieren lassen. Und woher will er überhaupt wissen, wie sie wirklich ist? Natürlich kann sie einfach so tun, als wäre nichts passiert. Und das wird sie ihm auch beweisen, indem sie ihn ab sofort komplett ignoriert.
Sie steht auf, nimmt ihren Rucksack und eilt durch das Treppenhaus nach unten – keine Zeit, auf den Aufzug zu warten –, wo sie direkt der finster dreinblickenden Miss Hamilton in die Arme läuft.
»Wo sind Sie gewesen?«, fragt sie mit nur mühsam unterdrückter Wut. »Sie halten sich jetzt gefälligst ran und fangen endlich an, die Regale einzuräumen. Wir sind in Verzug und Carlos ist nicht da. Auf Ihre Pause müssen Sie heute leider verzichten. Das hat nichts damit zu tun, dass Sie nicht pünktlich zu ihrem Dienst erschienen sind, wir sind einfach unterbesetzt. Im Übrigen ist Ihnen neulich bei dem Fernleiheauftrag ein Fehler unterlaufen, und ich musste mich bei diesem armen älteren Herrn dafür entschuldigen. Wie oft soll ich Ih nen denn noch erklären, dass …«
Sie meckert und meckert. Mit ihren straff zurückgebundenen Haaren und dem altmodischen Kleid wirkt sie wie eine Gouvernante aus einem Dickens-Roman. Willow erträgt es kaum, ihr zuzuhören. Sie hat keine Ahnung, wie sie die nächsten Stunden unter dem wachsamen Blick dieser Frau überstehen soll. Ungebeten taucht plötzlich Guy vor ihrem inneren Auge auf. Sein Gesicht. Seine Hände. Wie vorsichtig er das Buch ihres Vaters in den Händen gehalten hat. Wie er ihr den Verband angelegt hat.
»Es tut mir leid«, unterbricht sie Miss Hamilton abrupt. »Ich mache mich gleich daran, die Regale einzuräumen.« Sie schnappt sich einen mit Büchern vollgepackten Rollwagen und stößt ihn vor sich her in den Aufzug. Dort hämmert sie auf den Knopf für den elften Stock ein, ohne sich darum zu kümmern, wohin genau die Bücher eigentlich müssen.
Nun mach schon! Komm endlich!
Als sie oben ist, schiebt sie den Rollwagen beiseite und geht eilig zu dem Fenster, vor dem sie und Guy gesessen haben. Hektisch blickt sie sich um. Der Zettel ist nicht mehr da. Oh Gott! Sie war doch nur ein paar Minuten weg! Wer soll in der kurzen Zeit denn hier oben gewesen sein? Und wer würde sich schon die Mühe machen, irgendein zusammengeknülltes Stück Papier aufzuheben? Sie kriecht auf allen vieren herum, sucht. Wie weit kann sie es bloß weggeworfen haben? Sie legt sich auf den Boden und späht unter die Metallböden der Regale. Nichts als Staub.
Plötzlichentdeckt sie etwas Kleines, Weißes zwischen den Staubmäusen und tastet mit der Hand danach, aber es ist zu weit weg. Sie hat das Gefühl, dass ihre Schulter gleich aus dem Gelenk springt, als sie ihren Arm noch ein Stück weiter unter den Regalboden schiebt.
Da!
Sie glättet das Papier sorgfältig und faltet es dann ordentlich zusammen. Aber wo soll sie es jetzt hintun? Ihren Rucksack hat sie unten gelassen, und da sie heute einen langen Stufenrock ohne Taschen anhat … Kurz entschlossen schiebt sie sich das kleine Quadrat in ihren BH .
Sie weiß nicht genau, warum sie seine Telefonnummern aufheben will. Sie wird ihn nicht anrufen. Aber schaden kann es schließlich auch nichts, oder? Das harte Papierquadrat an ihrer Haut fühlt sich gut an. Es sticht, nicht so schmerzhaft wie die Rasierklinge, aber auch nicht so, dass sie es einfach ignorieren kann.
Dort bleibt es für den Rest des Tages, bis sie zu Bett geht.
Sie schläft sofort ein. Es ist kein Wunder, dass sie erschöpft ist. Aber durchschlafen – das ist etwas ganz anderes.
Willow hat keine Albträume, jedenfalls keine, an die sie sich bewusst erinnert, aber irgendetwas lässt sie nachts
Weitere Kostenlose Bücher