Bis unter die Haut
immer wieder zitternd und fröstelnd hochschrecken. Vielleicht ein Auto, das unter ihrem Fenster vorbeifährt und sie an den Unfall erinnert, oder Regen, der gegen die Scheibe prasselt.
Was es heute Nacht ist, weiß sie nicht. Schemenhaft erinnert sie sich an die Bruchstücke eines Traums: das Geräusch von berstendem Glas, sie spürt Glassplitter. Ist das der Grund, warum sie so zittert? Egal. Sie zieht ihren Geheimvorrat unter der Matratze hervor, nimmt mit verkrampften Fingern eine der Klingen.
Noch hat sie sich nicht geritzt, noch nicht. Aus einem plötzlichen Impuls heraus greift sie zum Nachttisch und wirft dabei das Telefon herunter. Ihre Hand tastet über das kleine Tischchen, bis sie den Zettel findet, den sie vor dem Schlafengehen dorthin gelegt hat. Ohne die Klinge loszulassen, verkriecht sie sich mit ihm und dem Telefon, das sie vom Boden aufgehoben hat, unter der Decke.
Sie ruft ihn nicht an, das würde sie nie tun. Aber ihre Hand schließt sich fest um den kleinen Zettel, als wäre er eine Rettungsleine.
KAPITEL SIEBEN
Willow summt eine kleine Melodie vor sich hin, als sie in einem der Gänge der Drogerie steht und in den Sonderangeboten stöbert. Sie ist ausnahmsweise einmal gut gelaunt. Die Schule ist heute früher aus gewesen und in der Bibliothek hat sie dienstfrei. Vor ihr liegt noch fast ein ganzer Tag, mit dem sie machen kann, was sie will.
Zum Beispiel ihren Vorrat aufstocken.
Sie ist in der Drogerie, an der sie neulich mit Guy und Laurie vorbeigekommen ist. Am liebsten benutzt sie eigentlich Skalpellmesser, aber die bekommt man ausschließlich in Fachgeschäften für Künstlerbedarf, und seit sie nicht mehr malt, geht sie nicht mehr gern dorthin.
Zur Not tut es natürlich auch jeder andere scharfe Gegenstand, und sie hat schon so ziemlich alles ausprobiert: Nagelschere, Teppichschneider, Einwegrasierer, sogar Steakmesser.
Sie bleibt vor den Schachteln mit Haarfärbemittel stehen, für die Laurie sich so interessiert hat. Ob sie eines kaufen soll? Nicht dass sie vorhat, sich die Haare zu färben, aber sie nimmt immer noch ein paar andere Sachen mit, damit an der Kasse niemand die Augenbrauen hochzieht.
Zu Hause hat sie ungefähr ein Dutzend komplett unbenutzte, jungfräulich weiße Skizzenblöcke herumliegen.
Dieses Mal entscheidet sie sich für ein Shampoo – das ist wenigstens etwas, das sie auch benutzen wird – und eilt dann zur Kasse. Sie ist immer nervös, wenn sie nach Rasierklingen fragt. Warum müssen sie überhaupt hinter der Kasse aufbewahrt werden? Ihr Herz klopft ein bisschen schneller, als sie ihre Sachen auf das Band legt. Sie versucht so unschuldig wie möglich auszusehen, kann aber nichts dagegen tun, dass sie sich wie eine Kriminelle fühlt.
»Und dann bitte noch drei Packungen Rasierklingen.«
»Drei Packungen? Warum denn ausgerechnet drei ?«, fragt der Kassierer und sieht sie seltsam an.
Zwanzig pro Packung – sechzig Klingen! Er weiß es!
»Ich … ähm, also …« Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Soll sie lieber wieder gehen? Einfach davonrennen? Was könnte schon passieren.
Er wird ja wohl kaum die Polizei rufen.
»Unser Sonderangebot bietet vier Packungen zum Preis von zweien«, fügt er erklärend hinzu.
Oh.
»Ach so, natürlich, stimmt ja … das … das hatte ich ganz vergessen. Also dann vier Packungen bitte. Vielen Dank.« Das Schlimmste ist vorbei. Sie ist so erleichtert, dass ihr fast schwindlig wird, und während sie ihre Einkäufe bezahlt und die Drogerie verlässt, fängt sie wieder an, vor sich hin zu summen.
Und jetzt?
Willow verstaut die Tüte mit ihren neuen Vorräten im Rucksack und schlendert ohne ein bestimmtes Ziel die Straße entlang. Sie könnte sich ein bisschen auf die Wiese auf dem Campus legen, überlegt sie. Nein, ganz schlechte Idee. Kopfschüttelnd denkt sie daran, was beim letzten Mal dort passiert ist. Vielleicht sollte sie einfach nach Hause gehen und ein bisschen was für die Schule tun. Zum Beispiel den Bulfinch zu Ende zu lesen und endlich mit dem Essay anfangen.
Tolle Aussicht.
Sie kann natürlich auch in den Park gehen. Der ist viel schöner als die Campus-Wiese und nicht mit negativen Erinnerungen verbunden.
Obwohl sie es als ungemein tröstlich empfunden hat, als Guy ihren Arm verarztet hat. Sie reibt sich gedankenverloren über den Verband. Er ist mittlerweile ein bisschen schmuddelig, sie müsste ihn dringend mal wechseln. Irgendwie hat sie bisher nicht die Zeit dazu gehabt.
Sie geht in Richtung Park,
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