Bis unter die Haut
wobei sie sich nicht sicher ist, ob sie wirklich Lust hat, allein dort hinzugehen. Die letzten Monate ist sie die meiste Zeit allein gewesen, weil sie es so wollte, aber jetzt … Willow denkt an das Gespräch mit Guy im Magazin zurück. Auch wenn er zum Teil an schmerzhafte Erinnerungen gerührt hat, hat sie es genossen, mit ihm zu reden. Vielleicht beginnt sie sich in ihrer eigenen Gesellschaft allmählich zu langweilen. Dieses Gefühl verstärkt sich nur noch, als ein paar Mädchen aus der Schule, die ebenfalls auf dem Weg in den Park sind, an ihr vorbeilaufen. Eine von ihnen ist Vicky. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie versuchen würde, sich ihnen anzuschließen? Wahrscheinlich hätte sie nichts dagegen, würde aber früher oder später wieder irgendeinen unsensiblen Kommentar von sich geben.
Was soll’s. Sie hat sowieso keine Lust, mit Vicky und ihren Freundinnen abzuhängen.
Kurz entschlossen dreht sie wieder um und geht Richtung Schule zurück. In den umliegenden Straßen gibt es viele Cafés. Sie könnte sich in eines davon setzen und etwas trinken.
Vor einem Café mit einer hübschen gestreiften Markise bleibt sie stehen und studiert die Karte neben der Tür. Sie hat nicht viel Geld. Fast alles, was sie verdient, gibt sie David und Cathy, aber für einen Kaffee wird es schon reichen.
»Willow!«
David?! Was macht der denn hier?
Warum ist er nicht in einer Vorlesung oder arbeitet zu Hause? Wieso trinkt er mitten am Tag in dieser Gegend einen Eiskaffee?
Nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hat, wird ihr klar, warum er hier ist. Der Unterricht ist heute wegen des Elternsprechtags früher zu Ende.
»Hallo, David«, grüßt Willow ihren Bruder, während sie zögernd auf seinen Tisch zugeht.
Wie soll sie sich verhalten? Soll sie einfach zugeben, dass sie weiß, warum er hier ist? Eigentlich ist sie sich sicher, dass er nicht möchte, dass sie es weiß. Sonst hätte er doch einfach davon erzählt und sie vielleicht sogar zu dem Beratungsgespräch mitgenommen.
»Hast du keine Vorlesung?«, fragt sie. David nimmt seine Jacke und einen Stapel Bücher von dem Stuhl neben sich und sie setzt sich. »Oder warum bist du in dieser Gegend?«
Wenn er ihr gegenüber nicht ehrlich ist, weiß sie, wie sie die Unterhaltung zu führen hat. So wie immer seit dem Unfall: Reden ohne etwas zu sagen.
»Äh, nein, ich hab gerade frei …«, antwortet David, ohne sie dabei anzusehen. Er spielt mit der Serviette, reicht ihr die Karte, tut alles, um sie bloß nicht ansehen zu müssen. »Eigentlich müsste ich eine Vorlesung vorbereiten, aber ich brauchte eine Pause. Also bin ich raus und irgendwie hier gelandet …« Er verstummt. Willow nickt verständnisvoll, als würde sie ihm seine Erklärung vollkommen abkaufen. Seufzend studiert sie die Karte.
»Und, wie läuft es so an der Uni?«, fragt sie, nachdem sie einen geeisten Cappuccino bestellt hat.
Ganz toll! Jetzt hörst du dich selbst so an, als würdest du versuchen, den Elternpart zu übernehmen!
»Gut.« David zuckt mit den Achseln.
Und David ist mal wieder die reinste Plaudertasche.
»Was für Vorlesungen hältst du dieses Jahr eigentlich?«
»Ach, du weißt schon. Immer derselbe alte Kram.«
Nein, ich weiß es nicht. Woher denn auch, verdammt noch mal! Du erzählst mir ja nichts mehr. Und was heißt hier immer derselbe alte Kram ? So lange unterrichtest du doch noch gar nicht.
»Verstehe.« Der Kellner stellt ihr Getränk vor sie hin, und Willow lässt sich viel Zeit damit, Zucker hineinzustreuen und umzurühren, während sie sich das Hirn zermartert, was sie als Nächstes sagen könnte. Doch das erweist sich als überflüssig, weil David schon ein Thema gefunden hat.
»Wie war die Schule heute?«, fragt er. »Was ist mit der Französischklausur? Die müsstest du doch mittlerweile längst zurückbekommen haben. Gab es irgendwelche Probleme oder ist sie gut gelaufen? Und du hast doch neulich erwähnt, dass du einen Essay schreiben musst. Über Bulfinch , oder?«
Warum erzählst du mir nicht, wie es heute in der Schule war? Du bist doch auch dort gewesen!
Willow muss die Zähne zusammenbeißen, um die Worte nicht laut auszusprechen. Warum sitzt er hier und tut so, als würde er seinen Eiskaffee genießen und als wäre er nur hergekommen, weil er eine Pause brauchte?
Sie weiß, warum er nicht darüber reden will. Es ist eine Sache, sich mit den Details ihres Schulalltags wie Essays und Klausuren auseinanderzusetzen, aber auf einen Elternsprechtag
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