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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Hoban
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vorzuschreiben, was du empfinden oder nicht empfinden sollst. Wahrscheinlich wünsche ich mir einfach, ich könnte irgendetwas tun, damit es dir besser geht, und wenn du mal versuchen würdest, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, wärst du vielleicht …« Er beendet den Satz nicht.
    Willow schüttelt den Kopf. »So einfach ist das nicht.« Jetzt ist sie diejenige, die ihn kaum ansehen kann. Es tut ihr schrecklich leid, dass er ihretwegen so unglücklich ist. »Denk bitte nicht, die Gespräche mit dir würden mir nicht …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Niemand redet so mit mir wie du«, sagt sie schließlich, trifft damit aber noch nicht einmal annähernd das, was sie eigentlich ausdrücken möchte.
    »Tja, mit mir redet auch niemand so wie du«, erwidert Guy.
    »Echt?« Willow ist überrascht.
    »Na klar: Ich finde es total normal, dass wir uns im einen Moment darüber unterhalten, an welchen Stellen deines Kör pers du dich schneidest, weil du glaubst, eine Mörderin zu sein, und hinterher ein bisschen über Traurige Tropen zu diskutieren. Nein, wirklich, das ist bei allen anderen Mädchen, die ich kenne, ganz genauso. Und diese Unterhaltungen fangen langsam wirklich an, mich zu langweilen …« Er schüttelt gespielt genervt den Kopf.
    Willow muss lachen. Sie kann es kaum fassen, aber sie muss tatsächlich lachen. Guy fällt in ihr Lachen mit ein und einen Moment lang können sie sich gar nicht mehr einkriegen. »Das ist aber nicht der Grund, warum ich mich ritze«, sagt sie, nachdem sie sich wieder beruhigt haben.
    »Warum kannst du dann nicht einfach –«, sagt Guy, aber Willow unterbricht ihn.
    »Was ich vor ein paar Minuten versucht habe, dir zu erklären, ist, dass du der einzige Mensch bist, der mir zuhört, der mir nicht die ganze Zeit einreden will, dass doch eigentlich alles in Ordnung ist.« Sie hält inne und fragt sich, ob sie weitersprechen soll, aber dann wird ihr noch einmal bewusst, dass das in Anbetracht dessen, was er schon alles für sie getan hat, das Mindeste ist, was sie ihm schuldet.
    »Nach dem Tod meiner Eltern ist mit etwas klar geworden.« Ihre Stimme zittert ein bisschen. »Mir ist klar geworden, dass das, was die Leute sagen und wie sie sich verhalten, in erster Linie etwas über sie selbst aussagt. Sie glauben, dass sie dir ihr Mitgefühl aussprechen oder wie auch immer man das nennen will, aber in Wirklichkeit dreht sich alles immer nur um sie .«
    Guy runzelt die Stirn. »Ich verstehe nicht so ganz, was du damit meinst.«
    »Okay, pass auf, ich gebe dir ein Beispiel.« Willow holt tief Luft. »Nach der Beerdigung ist eine alte Dame zu mir gekommen, um mir zu sagen, wie leid es ihr tut. Ich kannte sie kaum, meine Eltern waren entfernt mit ihr befreundet. Jedenfalls hat sie mir ihr Beileid ausgesprochen und dann gesagt: Wenigstens sind sie zusammen gestorben. « Sie schließt die Augen, als die Erinnerungen an diesen Tag auf sie einstürmen. Es fällt ihr nicht leicht, darüber zu reden, aber kurz darauf hat sie sich wieder im Griff.
    »Ist doch ganz schön seltsam, so etwas zu sagen, oder nicht? Ich meine, meine Eltern waren tot , sie sind bei einem Autounfall gestorben, das ist eine grauenhafte Art, ums Leben zu kommen, und sie steht einfach vor mir und sagt, es wäre gut, dass sie zusammen gestorben sind.« Sie hält einen Moment inne und sieht Guy an. Sein Gesichtsausdruck ist konzentriert und aufmerksam.
    »Ich habe gesagt, dass sie alt war«, erzählt sie weiter, »und damit meine ich richtig alt, bestimmt schon über achtzig. Ich wusste – jeder wusste –, dass ihr Mann vor dreißig Jahren gestorben war und sie kurz davor ihren einzigen Sohn in Vietnam verloren hatten. Und mir wurde klar, dass sie in dem Moment daran dachte, dass alles, was sie noch vor sich hatte, der Tod war und sie wusste, dass sie alleine sterben würde. Sie hat das nicht gesagt, weil sie gefühllos war – in ihren Augen hatten meine Eltern tatsächlich einen schönen Tod. Und ich gebe dir noch ein Beispiel. Neulich hab ich mit Laurie über meinen Bruder gesprochen, darüber, dass er jetzt die ganzen elterlichen Pflichten übernehmen muss, und weißt du, was sie darauf gesagt hat? Dass das doch irgendwie ganz süß von ihm wäre. Sie wollte sicher genauso wenig gefühllos sein wie diese alte Dame, aber sie versteht einfach nicht, worum es wirklich geht – für mich.« Willow senkt den Blick. »Aber mit dir, na ja, das, was du sagst … Du verstehst mich, und das hilft mir,

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