Bis unter die Haut
wohnen – ohne die Schlaf- und Beruhigungsmittel –, das war einfach schrecklich. Ich stand die ganze Zeit über wie neben mir, aber nicht mehr von den Tabletten, sondern weil ich zum ersten Mal wirklich begriff, was ich getan hatte. Und obwohl ich es wirklich begriffen hatte, spürte ich keinerlei Schmerz oder Trauer, damals jedenfalls noch nicht. Wahrscheinlich stand ich immer noch unter Schock.
Nachdem ich ungefähr eine ganze Woche lang fast nur geschlafen hatte, beschloss David, zum Haus meiner Eltern zu fahren, um ein paar Bücher zu holen. Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, dass es bei uns zu Hause vor Büchern nur so wimmelt – und ich spreche hier von mehreren Tausend. Na ja, jedenfalls hat er mir dort einen Schraubenzieher in die Hand gedrückt und mich gebeten, ein altes Bücherregal im Keller auseinanderzubauen. Er wollte sich währenddessen ein paar von den Regalen oben vornehmen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war diese ganze Aktion komplett sinnlos. In seiner und Cathys Wohnung ist überhaupt kein Platz für diese ganzen Bücher, geschweige denn für irgendwelche alten Regale. Aber weißt du, was? Ich glaube, für David war das Zerlegen der Regale so etwas Ähnliches wie für die alten Griechen das Kleiderzerreißen und Haareraufen, wenn sie trauerten. Letzten Endes hat er keines der Regale mitgenommen, deswegen glaube ich, dass es ihm wirklich um so eine Art von Trauerbewältigung ging.
Jedenfalls stand ich mit diesem Schraubenzieher im Keller – und Schraubenzieher und meine zwei linken Hände … also das ist eine ganz schlechte Kombination, so ähnlich wie High Heels auf dem Mount Everest – und habe versucht, dieses dämliche Bücherregal auseinanderzubauen, aber ich hab es einfach nicht geschafft. Und plötzlich, vielleicht weil ich wieder zu Hause war oder weil Bücher meinen Eltern so viel bedeutet haben und ich gerade dabei war, ihre Sammlung aufzulösen, keine Ahnung … auf jeden Fall ist es mir plötzlich klar geworden, ich meine, wirklich klar geworden. Es war, als würde ein Schmerz an die Tür zu meinem Bewusstsein klopfen, der so überwältigend und unerträglich war, dass ich wusste, ich würde daran zugrunde gehen, wenn ich ihn hereinlassen würde.
Und als ich gerade das Gefühl hatte, völlig den Verstand zu verlieren, passierte plötzlich etwas. Auf einmal ließ der Schmerz nach, er ging weg, er fraß mich doch nicht völlig auf – und dann merkte ich erst, dass ich mit dem Schraubenzieher auf mich einstach, mich regelrecht selbst damit attackierte, und dass der körperliche Schmerz, den ich mir selbst zufügte, besser war als die stärksten Schlaf- oder Schmerztabletten. Dieser Schmerz, dieser körperliche Schmerz, floss wie eine Droge durch meine Adern und machte mich taub und immun gegen alles andere. Ich spürte nur noch diesen Schmerz, und da wusste ich, dass ich einen Weg gefunden hatte, um mich selbst zu retten. Als du dahintergekommen bist, hast du gedacht, ich würde mich umbringen wollen, dass diese ganze Ritzerei so etwas Ähnliches wie Generalproben sind, bis ich genügend Mut habe, mir wirklich die Pulsadern aufzuschlitzen. Das stimmt nicht. Es ist das genau Gegenteil: Dadurch, dass ich das tue, rette ich mich.
Ich habe mich sozusagen darauf konditioniert, nichts außer körperlichem Schmerz zu fühlen. Und ich habe es völlig im Griff. Verstehst du? Verstehst du das?«
Guy sagt kein Wort. Er ist blass. Willow schweigt ebenfalls. Ihm das alles zu erzählen, hat sie angestrengt. Doch während sie so neben ihm sitzt, nimmt sie plötzlich intensiv seine körperliche Nähe wahr, sieht seine sehnigen Unterarme unter den aufgekrempelten Ärmeln, spürt seine nackte Haut an ihrer und ist sich der Gefühle bewusst, die all dies tief in ihrem Inneren hervorruft. Und ihr wird klar, dass sie trotz ihrer verzweifelten Versuche, es nicht zuzulassen und nur den Schmerz zu fühlen, auch noch etwas anderes fühlt. Und plötzlich überkommt sie der heftige Wunsch, ihn zu küssen.
Dieser abrupte Stimmungsumschwung erschreckt sie. Wie kann Kummer so plötzlich in Verlangen umschlagen?
Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass sie einem anderen Menschen noch nie so viel von sich gezeigt hat? Weil sie ausprobieren möchte, ob es wirklich so gefährlich ist, etwas zu fühlen? Wäre es tatsächlich so verhängnisvoll, ihn zu küssen, etwas für ihn zu empfinden … sich in ihn zu verlieben ?
Dieses Mal ist sie es, die sich ihm wie in Zeitlupe nähert. Sie kniet
Weitere Kostenlose Bücher