Bis unter die Haut
sich vor ihn hin, beugt sich zu ihm und zieht ihn an seinem Hemdkragen zu sich. Er wirkt genauso überrascht wie sie, lässt sich aber sofort darauf ein. Ihre Lippen treffen sich, sie drängt sich noch enger an ihn, bis sie auf seinem Schoß sitzt, tut alles, um ihn so intensiv wie möglich zu spüren, in dem verzweifelten Wunsch herauszufinden, ob es für sie noch etwas gibt, das über ihre Abhängigkeit von der Rasierklinge hinausgeht.
Plötzlich schlägt das unglaublich angenehme Gefühl in den Schmerz ihrer schlimmsten Ängste um. Hinter ihren geschlossenen Lidern zucken Bilder des Unfalls auf, kämpfen darum, Guys Gesicht von dort zu verdrängen. Eine wahre Emotionsflut droht, über ihr zusammenzuschlagen und sie ins Nichts zu ziehen. Plötzlich kniet sie wieder im Keller ihrer Eltern vor dem Bücherregal.
»Ich kann nicht.« Sie stößt ihn weg. »Ich kann einfach nicht!«
Sie atmet schwer und registriert kaum, dass Guy vor ihr kniet. Das blutige Armaturenbrett, die zerschmetterten Glieder ihrer Mutter – etwas anderes sieht sie nicht. Sie presst die Hände auf die Ohren, um die entsetzlichen Unfallgeräusche auszublenden. Es ist zwecklos.
Keuchend springt sie auf, dreht ihm den Rücken zu und fingert hektisch nach der Rasierklinge, die sie wie meistens in der Hosentasche bei sich trägt.
Als sie gerade zum ersten Schnitt ansetzen will, um sich von diesem grauenhaften Wachtraum zu befreien, schließt sich Guys Hand um ihren Arm. Hart zieht er sie wieder auf den Boden hinunter.
»Nein.« Er schüttelt bestimmt den Kopf. »Nicht hier. Bitte tu es nicht.«
»Ich muss es tun.« Sie ringt nach Luft. »Versteh doch, ich muss !«
Er setzt sich auf die Fersen und sieht sie ernst an. »Also gut«, sagt er schließlich. »Du kannst dich ritzen, aber nicht so, nicht wie ein in die Enge getriebenes Tier. Du musst es vor mir machen. Mich dabei ansehen.«
»Ich … Ich soll …« Sie starrt ihn mit offenem Mund an. Sie kann sich nicht vor ihm schneiden. Es ist etwas so Intimes, dass ihr Kuss daneben zu einem flüchtigen Händeschütteln verblasst. Sie kann es einfach nicht.
Aber es drängen immer mehr Bilder von dem Unfall in ihren Kopf und in ihren Ohren kracht und splittert es. Es gibt nur einen Weg, wie sie dem Horror ein Ende bereiten kann.
Willow zuckt nicht einmal zusammen, als sie sich die Klinge ins Fleisch drückt. Ihr Blick ist auf Guy gerichtet, und ihr ist klar, wie nackt sie sich ihm zeigt, obwohl sie vollständig angezogen ist. Es tut weh. Es tut unglaublich weh. Innerhalb von Sekunden schießt der Schmerz durch ihre Adern wie ein Opiat und verdrängt alles andere.
»Oh mein Gott!« Guy schlägt sich die Hand vor den Mund. »Hör auf! Ich kann das nicht sehen!« Er zwängt ihre Finger auseinander, reißt ihr die Klinge aus der Hand und wirft sie durch den Raum. Dann nimmt er ihren Arm, starrt auf das darüber laufende Blut und zieht Willow plötzlich in einer heftigen Bewegung an sich.
Er presst sie so eng an sich, dass sie seinen Herzschlag spürt.
»Kannst du wirklich keine anderen Gefühle zulassen als Schmerz?« Er hält sie so fest, wie sie es sich nie hätte vorstellen können.
Sie legt den Kopf an seine Brust. Nachdem die Klinge ihr Werk getan hat, ist Guys Nähe nicht mehr ganz so überwältigend. Unter halb geschlossenen Lidern sieht sie, wie er mit einem Zipfel seines Hemds vorsichtig das Blut von ihrem Arm wischt. Und jetzt, wo sie betäubt ist, kann sie sich nichts Schöneres vorstellen, als für immer so mit ihm hier sitzen zu bleiben.
Stattdessen tut sie einfach das Zweitschönste. Sie bleibt mit ihm im Magazin sitzen, bis die Schatten immer länger werden. Solange es eben geht.
KAPITEL ZWÖLF
Willow dachte immer, es in der Kunst, im Unterricht den Eindruck einer aufmerksamen Zuhörerin zu vermitteln, während ihre Gedanken in Wirklichkeit Lichtjahre entfernt sind, zu wahrer Meisterschaft gebracht zu haben.
Aber diese zweifelhafte Fähigkeit scheint ihr aus irgendeinem Grund abhandengekommen zu sein. Sie ist sich sicher, dass jeder, der sie heute beobachtet, ihr sofort ansieht, dass sie zwar physisch im Französischkurs anwesend, mit den Gedanken aber vollkommen woanders ist.
Sie muss die ganze Zeit daran denken, was im Magazin passiert ist, und auch an die Auseinandersetzung mit David, dem sie seitdem nicht wieder begegnet ist. Wie soll sie sich verhalten, wenn sie Guy oder ihren Bruder das nächste Mal sieht?
Wenigstens hat sie, was David angeht, noch eine kleine Schonfrist
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