Bis unter die Haut
schon am Morgen empfunden hat.
Nachdenklich tritt sie ein Stück von ihm weg und verschränkt die Hände hinterm Rücken. Dass er so gut über sie Bescheid weiß, ist nicht wirklich etwas Schlechtes. Ganz und gar nicht. Das Band, das zwischen ihnen entstanden ist, ist wahrscheinlich sogar das einzig Positive in ihrem Leben. Was ihr so zu schaffen macht, ist die Tatsache, wie viel er von ihr kennt. Ihre tiefsten Abgründe. Und als sie jetzt so vor ihm steht, fühlt sie sich unglaublich verwundbar.
»Also, was ist? Sollen wir runtergehen?«
»Du weißt alles über mich«, rutscht es ihr plötzlich heraus. Als Guy sie erstaunt ansieht, wird ihr bewusst, dass das, was sie gesagt hat, für ihn gar keinen Sinn ergeben kann und völlig überraschend kommt. »Ich meine, du weißt nicht nur, dass ich die Edelsteinabteilung mag …« Sie gerät ins Stocken.
»Du hast doch auch gewusst, dass ich zu den Dinosauriern will. Ich versteh nicht, was …«
»Das ist nicht das Gleiche«, unterbricht sie ihn. »Du bist ein Typ, klar findest du Dinosaurier toll. Das steckt dir praktisch in den Genen.«
»Also, wenn ich gesagt hätte, dass du Edelsteine magst, weil du ein Mädchen bist, hätte ich mir von dir bestimmt anhören dürfen, dass ich ein sexist-«
»Du kapierst es nicht«, sagt Willow heftig. »Ich meine damit, dass du meine schlimmsten Abgründe kennst, ich von dir aber nur die guten Sachen weiß. Ich habe keine Ahnung, ob es irgendetwas gibt, wofür du dich vielleicht schämst oder das du vor allen anderen geheim halten möchtest.«
»Ach so.« Er wirkt etwas verwirrt von der Wendung, die das Gespräch genommen hat.
»Ist nicht so wichtig«, murmelt sie kurz darauf. »Lass uns zu den Edelsteinen gehen, okay?« Sie nimmt seine Hand. »Vergiss einfach, was ich gesagt hab.«
Aber sie selbst kann es nicht so leicht vergessen. Und dass sie seine Hand hält, macht die Sache nicht gerade einfacher. Seine Hände, diese wunderschönen, großen Hände, die ihren Arm verbunden haben, erinnern sie ständig daran, dass er ihr dunkles Geheimnis kennt.
»Ich war schon so lange nicht mehr hier«, sagt sie, als sie den Ausstellungsraum mit den Edelsteinen und Mineralien betreten. Genau wie bei den Dinosauriern vorher sind sie auch hier die einzigen Besucher. Es ist weit und breit kein Sicherheitspersonal zu sehen, was wahrscheinlich daran liegt, dass sich sämtliche Ausstellungsobjekte hinter Panzerglas befinden.
Der Raum ist fensterlos, da er im Souterrain liegt, aber die künstliche Beleuchtung und das Strahlen der Edelsteine tauchen ihn in ein ganz besonderes Licht. Wegen dieses seltsam geisterhaften Glanzes und der unebenen Oberfläche der Kristalle hat Willow immer, wenn sie hier ist, das Gefühl, über die Mondoberfläche zu wandeln.
»Es gibt hier irgendwo eine riesige Auster. Vielleicht gefällt sie dir überhaupt nicht, aber ich finde sie total faszinierend. Da drin wurde die größte Perle aller Zeiten gefunden. Ich hab vergessen, wie viel sie gewogen hat, aber … Warte kurz, ich glaube, sie ist gleich hier drüben …« Willow plappert einfach irgendwelches Zeug. Sie möchte unbedingt, dass alles wieder so unbeschwert zwischen ihnen wird wie vorhin im Park.
»Na, was sagst du dazu?«, fragt sie mit einem leicht gezwungenen Lächeln, als sie schließlich vor der Auster stehen.
»Ich glaube nicht, dass ich … dass ich mich wegen irgendetwas schäme«, sagt Guy, ohne die Auster zu beachten, und dreht sich zu ihr um. »Ich habe nie etwas getan , das ich vor anderen verstecken müsste. Also mal davon abgesehen, dass ich in der Achten bei der einen oder anderen Mathearbeit abgeschrieben hab.«
»Okay«, sagt Willow leise.
»Ich meine damit, dass ich nie irgendetwas Bestimm tes gemacht habe, von dem ich Angst hätte, dass es jemand herausfinden könnte«, sagt er. »Aber ich würde auf keinen Fall wollen, dass jemand – meine Freunde, noch nicht mal Adrian – weiß, wie es die meiste Zeit über in mir aussieht.« Er schaut Willow in die Augen, und sie erkennt, dass er trotz der Stärke, die er ausstrahlt, genauso verwundbar ist wie sie.
»Ich … Also das Gefühl lässt sich wohl am besten mit Angst beschreiben. Ich habe Angst. Ich weiß natürlich, dass viele Leute tief in ihrem Inneren Angst haben, aber … Wie soll ich dir das erklären? Okay, pass auf: Laurie hat dir doch bestimmt schon mal erzählt, dass sie Angst hat, nicht auf die Uni zu kommen, an der sie gerne studieren würde, oder dass sie und Adrian an
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