Bis unter die Haut
bekommen. Als sie gestern Abend schließlich irgendwann nach Hause gegangen ist, hatte es ihr furchtbar vor der bevorstehenden Konfrontation mit ihm gegraut. Cathy hatte sie dann daran erinnert, dass David auf einer Konferenz war und erst am nächsten Tag nach Hause kommen würde. Cathy selbst schien kein Bedürfnis mehr zu haben, noch irgendetwas zu dem Vorfall zu sagen.
Sie ist sich sicher, dass die nächste Begegnung mit David extrem unangenehm wird, hat jedoch noch nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung davon, wie es wird, wenn sie Guy wiedersieht.
Sie schließt die Augen, als ungebetene Bilder vom gestrigen Nachmittag auf sie einzustürmen beginnen. Wenn sie an ihren gemeinsamen Tag zurückdenkt, sind ihre Gefühle total gemischt.
Alles ist so einfach gewesen, bevor sie ihn kennengelernt hat. Es gab den Unfall und es gab die Rasierklinge. Ihr Leben kreiste nur um diese beiden Dinge. Jetzt ist alles kompliziert.
Sie seufzt schwer und spürt, wie das Mädchen neben ihr sie seltsam anschaut.
Vielleicht braucht sie nur ein bisschen Zeit. Und wer sagt, dass sie ihn heute überhaupt sehen wird? Das jetzt ist ihre letzte Stunde, es kann sein, dass sie ihn nachher draußen trifft, es kann aber auch nicht sein. Er hat sie ja noch nie angerufen, sie ist diejenige, die …
Sie fängt an zu lachen, nicht wirklich laut, aber laut genug, dass ihr das Mädchen neben ihr den nächsten irritierten Blick zuwirft.
Dieses Mal kümmert es sie nicht. Es kommt ihr völlig absurd vor, dass sie nach allem, was passiert ist, an nichts anderes denken kann, als Ruft er mich an oder soll ich mich bei ihm melden? Genau die Art von »existenzieller« Frage, die sie und Markie früher stundenlang durchhecheln konnten. Einen Augenblick lang fühlt sie sich wieder wie ein ganz normales Mädchen.
Als es gongt, steht sie sofort auf und strömt mit den anderen aus dem Klassenzimmer. Auf dem Flur sieht sie sich verstohlen um und ist gleichzeitig erleichtert und enttäuscht, als sie Guy nirgends entdeckt.
Hast du nicht ein bisschen Zeit zum Nachdenken gewollt?
Vor der Schule das gleiche Bild – jede Menge plappernder und lachender Schüler, aber keine Spur von Guy. Dafür entdeckt sie Laurie und Chloe und geht auf sie zu.
»Und, was sagst du?« Laurie strahlt Willow an und dreht sich auf ihren Absätzen einmal um sich selbst. Willow braucht einen Moment, bis sie kapiert, dass Laurie ihr ihre neuen Schuhe vorführt.
»Hey, die sind wirklich toll!«, sagt sie bewundernd. »Und die Farbe finde ich total super.«
»Sind die nicht der Hammer? Ich konnte es echt kaum fassen, dass sie tatsächlich noch ein Paar in meiner Größe dahatten. Und bequem sind sie auch.«
»Du hättest wirklich mitkommen sollen«, sagt Chloe. »Die hatten alles runtergesetzt. Ich hab mir gleich zwei Paar gekauft, hab sie aber heute nicht an«, fügt sie hinzu, als Willow auf ihre Füße schaut.
»Was für welche hast du dir gekauft?«
»Die Gleichen wie Laurie, aber ich musste ihr versprechen, dass ich meine erst anziehe, wenn wir auf verschiedenen Unis sind.« Chloe zieht eine Schnute. »Und dann noch ein Paar, das für die Schule viel zu krass wäre, aber absolut umwerfend ist. Schwarz. Super hoch und mit ganz vielen Riemchen.
»Wir wollen in den Park«, sagt Laurie. »Was anderes können wir uns nicht mehr leisten. Hast du Lust mitzukommen?«
»Klar«, antwortet Willow nach kurzem Zögern. Das ist jetzt vielleicht genau das, was sie braucht. Nicht darüber nachdenken, wie die bevorstehende Begegnung mit ihrem Bruder ablaufen oder wie es mit ihr und Guy weitergehen wird, sondern einfach im Park liegen und sich über nichts emotional Anspruchsvolleres als Schuhe zu unterhalten. Perfekt.
»Was ist eigentlich aus der Praktikumstelle geworden, für die du dich beworben hast?«, fragt sie Laurie, als sie über die Straße gehen und den Weg Richtung Park einschlagen.
»Hast du noch nicht mitgekriegt, dass es gefährlich ist, sie auf solche Sachen anzusprechen?«, sagt Chloe und kickt ein Kieselsteinchen vom Gehweg.
Willow sieht Chloe einen Moment lang fragend an, als Laurie auch schon anfängt, sich lang und breit darüber auszulassen, welche Vor- und Nachteile ein bezahlter Nebenjob im Vergleich zu einem unbezahlten Praktikum hat. Chloe und Willow grinsen sich verschwörerisch an.
»Es würde sich in meinem Lebenslauf einfach total gut machen, wenn ich ein Praktikum vorweisen könnte.« Laurie kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Andererseits würde
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