Bis zum bitteren Ende
daß dir irgend etwas zustößt.«
Ryan sah ihr in die Augen. »Ich werde auf der Hut sein.«
Nadjas Augen verengten sich. »Das will ich dir auch geraten haben.« Ihr Blick wurde härter, obwohl ein Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. »Wenn nicht, bringe ich dich eigenhändig um.«
4
Die Berührung des reinsten Bösen hallte in Lucero nach und ließ sie schaudern. Erst vor wenigen Stunden hatte sie aufgrund des überwältigenden Gefühls der Angst und des Entsetzens, das sie beim Anblick des dunklen Keils auf den Metaebenen erfaßt hatte, das Bewußtsein verloren.
Jetzt stand sie in der physikalischen Welt hoch oben im Teocalli von San Marcos, schaute aus dem Fenster der Stufenpyramide und betrachtete die immer zahlreicher werdenden Massen draußen. Die heiße texanische Sonne brannte auf sie nieder und badete sie in ihren sengenden Strahlen. Das machte ihr jedoch nichts aus, sie genoß es sogar. Diese körperliche Existenz, wie beschwerlich sie auch sein mochte, war nach ihrem ausgedehnten Aufenthalt auf den Metaebenen in Gesellschaft von Señor Oscuro ein Segen.
Das Tal vor ihr und die Ebene dahinter waren voller Leute, die der Locus - der gemeißelte Obsidianquader im Bett des Sees unter dem Tempel - aus den entferntesten Winkeln Aztlans angelockt hatte. Sicherheitszäune waren in weitem Umkreis errichtet worden, um den Steinquader vor der riesigen Menge abzuschirmen. Tausende und Abertausende von Metamenschen sangen und feierten das Ende der aztekischen Fünften Sonne.
Was, wie sie wußte, gleichbedeutend mit der Ankunft der Tzitzimine war - Dämonen, welche die Welt verschlingen konnten. Ein Schauder überlief sie. Hatte sie jene Dämonen auf der anderen Seite des Abgrunds gesehen? Hatte sie ihre Berührung im Herzen gespürt?
Sie vermutete, daß die Leute vom Locus angezogen wurden, aber vielleicht lockte Señor Oscuro sie auch mit magischen Mitteln her. Ihre Anwesenheit weckte ein Gefühl des Unbehagens in Lucero, obwohl sie nicht wußte, warum das so war. Es waren nur gewöhnliche Landarbeiter, die draußen in Zelten und provisorischen Lagern campierten.
Vielleicht sind sie nur genauso von der Macht des Locus verzaubert wie ich.
Lucero war wie hypnotisiert von der Verlockung des riesigen schwarzen Steins. Seine glänzende Oberfläche war absolut glatt, wie geschliffener Onyx oder schwarzer Diamant. Er schien sämtliches Licht ringsumher zu absorbieren. Ein feines Netz goldener Adern durchzog ihn, winzige Fäden aus Orichalkum, die von hier oben kaum sichtbar waren.
Der See war fast gänzlich trockengelegt, nur an den tiefsten Stellen befand sich noch Wasser. Der Rest wurde durch große Rohre flußabwärts gepumpt. Lucero konnte das Spiegelbild der Nadel des Aussichtsturms im silberglänzenden Wasser sehen - ein Überbleibsel eines alten Vergnügungsparks, in dem die Leute auf einen zylindrischen Metallturm gefahren waren, um von dem drehbaren Observatorium einen besseren Ausblick auf das umliegende Gelände zu haben. Die Aussichtsplattform war bereits seit langem festgerostet und hatte sich in den Jahren, seit Lucero in San Marcos war, nicht einmal bewegt.
Hinter ihr ertönte ein leises Klopfen gefolgt vom Knarren der sich öffnenden Tür. Lucero drehte sich um und erblickte drei Akoluthen in weißer Leinenkleidung. Einer von ihnen, ein etwa siebzehnjähriger Junge mit brauner Haut und dunklen Augen, hielt ein graues Gewand für Lucero in Händen. Er entfaltete es und hielt es ihr hin.
»Señor Oscuro hat deine Anwesenheit am neuen Altar verlangt«, meldete der Junge. »Wir werden dich begleiten.«
Lucero nickte. »Vielen Dank. Ich bin sofort fertig.« Schamgefühl war eine ungewöhnliche Regung im Tempel, aber Lucero war ein ganz besonderer Fall. Die Akoluthen verstanden den Wink und warteten draußen.
Lucero stieß einen tiefen Seufzer aus. Sie mußte ihrem Herrn gehorchen, aber sie fürchtete sich vor dem, was er von ihr verlangen mochte. Beim letztenmal, als sie gemeinsam die Metabenen bereisten, hatte er sie als Focus für seine Blutmagie benutzt. Ihretwegen war es Oscuro gelungen, diesen Keil in das Licht und das Lied der Göttin zu treiben, welche die metaplanare Brücke bewachte.
Lucero streifte ihr Nachtgewand ab und ging mit der grauen Robe in der Hand zum Spiegel. Sie starrte auf das Spiegelbild ihres nackten Körpers. Früher war sie einmal sehr schön gewesen, aber das war vor langer Zeit gewesen, vor den Narben. Vor ihrer Sucht nach Blut, ihrer sklavischen Ergebenheit dem
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