Bis zum bitteren Tod (German Edition)
keine Züge, kaum Busse und in den letzten hundert Jahren auch immer zu wenig Autos gab, war es üblich, dass man anhielt und Fußgänger zum nächstgelegenen Dorf mitnahm.
Stadtbewohner amüsierte es immer wieder aufs Neue, wenn die Bauern aus der Gegend lächelnd an den Hut tippten und einen grüßten, wenn man sie im Wagen passierte. Niemand war Ravi bislang begegnet. Erst gegen halb sieben kam der alte Ford-Pick-up von Jerry O’Connell mit vier großen Milchkannen beladen klappernd um eine Kurve und hätte Ravi fast über den Haufen gefahren. Jerry trat auf die Bremse, kam leicht ins Schleudern, die Milchkannen krachten gegeneinander, aber nichts passierte.
Jerry, ein irischer Bauer um die 50, betrieb bereits in der neunten Generation die Milchwirtschaft seiner Familie unten auf der Mizen Peninsula. Der Boden war kein ausgesprochenes Weideland, aber es gab gute Grasabschnitte, denen der viele Regen und der sommerliche Sonnenschein zugutekamen. Es gab keinen Frost, die warme Luft über dem Golfstrom strich über sie hinweg, und Männer wie Jerry wussten ganz genau, wo Milchrinder gediehen.
Sie alle stammten aus katholischen Familien, großen Familien mit mehr als vier oder fünf Kindern. Jerry selbst hatte sechs Geschwister, seine Frau Katy, Tochter des Hafenmeisters, hatte ihm fünf Kinder geboren.
Jeden Tag in seinem Leben fuhr Jerry mit der frischen Milch die fünf Kilometer zur Milchsammelstelle in Goleen, wo die Milch in den Milch-Lastzug gefüllt und zur Abfüllanlage gebracht wurde. Vier leere Kannen von der gestrigen Fahrt würden Jerry in Goleen erwarten, wenn er dort eintraf. Damit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt.
Der Beinahe-Unfall mit General Rashud aber brachte ihn gehörig aus der Fassung. Er stellte den Motor ab und stieg aus. »Heilige Muttergottes, Sir«, sagte er, »beinahe hätte ich Sie überfahren, das wäre ja ganz fürchterlich gewesen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen? Hier werden Sie auch in den nächsten drei Stunden keinen Bus zu Gesicht bekommen. Da steht Ihnen noch ein strammer Fußmarsch bevor.«
Ravi lächelte. »Machen Sie sich nichts daraus«, antwortete er mit der Gelassenheit des ehemaligen britischen Armeeoffiziers. »Ich war ja auch mitten auf der Straße unterwegs.«
»Na, das wäre keine Entschuldigung gewesen, Sir. Nein, ganz und gar nicht. Ich möchte es wiedergutmachen.«
Ravi betrachtete den leutseligen Bauern. Und Jerry betrachtete den gut gekleideten Fremden. Er streckte ihm die Hand hin. »Jerry O’Connell …«
Ravi schüttelte ihm die Hand. »Rupert Shefford … und danke für das Angebot. Ich fahre gern mit.«
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Jerry.
»Nach Skibbereen«, erwiderte Ravi.
»Na, so weit fahre ich nicht, aber bis Schull können Sie gern mitkommen. Dort geht um acht ein Bus – aber schauen Sie doch nur, was für ein Ausblick hier! Mein Grandpa hat immer gesagt, hier hat man den schönsten Blick in ganz Europa!«
»War er weit herumgekommen?«
»Zum Teufel, nein. Er war nur einmal länger als drei Stunden fort, und das zu einer Hochzeit in Dublin. Da hatte er so großes Heimweh, dass es ihn schon vor dem Empfang wieder nach Hause trieb.«
Ravi lachte. »Na, da wollen wir doch mal einsteigen, Jerry, und vielen Dank auch.«
Aber Mr. O’Connell schien es nicht eilig zu haben. »Ah, Rupe«, sagte er. »Und was führt Sie an einem solch wunderschönen Morgen in dieses winzige Nest? Sie sehen mir nicht wie ein Seemann aus – und wie ein Bauer schon gar nicht … haben Sie in einem der Hotels übernachtet? Eine Tante von mir arbeitet im Old Castle House.«
Ravi überlegte fieberhaft. »Nein«, erwiderte er. »Ich hab dort unten ein paar Freunde besucht.«
»An Land?«
»Ja, an Land. Ein paar Kumpel von der Schule.«
»Ach, es geht doch nichts über solche Treffen, Rupe, wenn man über die alten Zeiten reden kann, dazu ein paar Gläschen Jameson.«
»Ja, war ganz schön, Jerry«, sagte Ravi, dem klarwurde, dass er sich hier unweigerlich auf Glatteis begab. Ungerührt fuhr der irische Milchbauer mit der Unterhaltung fort.
»Na, wer waren denn diese Kumpel von der Schule?«, fragte er. »Meine Familie lebt hier schon seit mindestens 300 Jahren, ich bin mir sicher, dass ich sie kenne. Und Ihr Freund ist auch mein Freund. Wie heißen sie, Rupe?«
Die Sache nahm damit eine tödliche Wendung. Ravis Gedanken rasten. Jerry O’Connell wusste sowieso bereits zu viel. Er konnte ihn identifizieren; in einer halben Stunde würde jeder
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