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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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muss ich ja wieder spazieren über Gelände.»
    Der Wachmann seufzte. «Na gut.»
    Jetzt erst kam er um die Bank herum. Kurz blieb er vor ihr stehen, dann seufzte er abermals, bevor er sich ans äußerste Ende der Bank setzte. Er trug eine schwarze Umhängetasche aus Nylon, die er neben sich abstellte und mit einer Hand festhielt, als bestünde sonst die Gefahr, dass Anna ihn beraubte. «Wissen Sie, es ist halt nicht erlaubt», sagte er. «Ich kann in Teufels Küche kommen.»
    «In die Küche von Teufel?»
    «Schwierigkeiten bekommen. Wenn das jemand herauskriegt.»
    «Dann?»
    «Dann …» Er dachte nach. Schließlich holte er aus der schwarzen Umhängetasche eine silberne Thermoskanne und einen weißen Plastikbecher. «Kaffee?»
    «Das wäre sehr nett.»
    Er goss ihr schwarzen Kaffee in den Becher und sich selbst in den Deckel der Thermoskanne und öffnete ein kleines braunes Glas mit weißem Pulver.
    «Milch? Das heißt … so etwas Ähnliches?»
    Sie nickte.
    Er schüttete Weißer in ihren Becher, kramte dann wieder in seiner Tasche und gab ihr einen Plastiklöffel zum Umrühren. «Ist ganz frisch, der Kaffee.»
    «Haben Sie in Haus gemacht.»
    «Nein, nein … ich bewache auch eine Kaffeerösterei, und da krieg ich immer Kaffee umsonst.»
    «Sie bewachen Kaffee?»
    «Ich fahre den ganzen Tag herum. Kontrolliere Fabriken, Bürohäuser und verlassene Häuser wie dieses.»
    Sie nippte an ihrem Kaffee. «Ist das gut?»
    «Eigentlich sterbenslangweilig. Man kann nachdenken.»
    «Und das ist Ihre Bank.»
    «Sozusagen.»
    «Stört es Sie, dass ich auf ihr sitze?»
    «Nein.»
    «Was war in dem Haus – früher?»
    «Ganz früher hat es irgendeinem Fürsten gehört. Metternich? Kann das sein? Bin mir da nicht sicher. Ich glaube, Metternich. Oder Bismarck. Nach dem Krieg war da ein Auffanglager drin, hab ich gehört, für Flüchtlinge aus der Ostzone oder so was, und nach der Wende ein Erholungsheim für Mütter. Dann ’n Ausflugslokal und jetzt nix.»
    «Schade.»
    «Ja, eigentlich schon. Aber ich mag’s auch. ’tschuldigung.»
    Er suchte wieder etwas in seiner Tasche und förderte einen klobigen schwarzen Stab zutage, auf dem ein gelber Aufkleber mit rotem Blitz und der Warnung: 30 000  Volt!, angebracht war. Er legte den Stab zur Seite und wühlte weiter, bis er eine Aluminiumbüchse fand, die er neben sich auf die Bank legte und öffnete. Sie enthielt ein dickes, in Papier eingewickeltes belegtes Brot. Sein Blick verriet eine gewisse Gier, als er, wohl eher anstandshalber, sagte: «Mettwurst. Auch eine?»
    «Nein, danke.»
    Er begann zu essen, und mit einem Mal lag Zufriedenheit auf seinem vollen Gesicht. «Un’ Schie? Was machen Schie hier?»
    «Ich wohne vor dem Tor.»
    Er wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. «Aber noch nicht lange.»
    Hatte er sie beobachtet?, überlegte Anna. «Nein, noch nicht lange.»
    Er musterte sie. Sie schlug die Beine übereinander.
    «Ist Ihnen nicht kalt?», fragte er.
    «Nein, ist überhaupt nicht kalt.» Sie deutete auf den schwarzen Stab: «Was ist das?»
    «Elektroschocker. Dreißigtausend Volt.»
    «Brauchen Sie das viel?»
    «Nein, eigentlich nicht. Aber man kann ja nie wissen.» Er grinste. «Jeder hat mal seinen großen Tag.»
    Er packte die Büchse und den Schocker ein und stand auf. «Ich muss dann wieder.»
    «Tschüs.»
    «Ich meine, ich muss abschließen.»
    Er bot ihr an, sie bis zum Tor in seinem Auto mitzunehmen, aber sie wollte nicht mit ihm im Wagen sitzen. Also fuhr der Wachmann voraus und wartete, und als sie draußen war, schlang er die Kette um die Torgitter und drückte das Vorhängeschloss zu.
    «Vielleicht sieht man sich mal wieder», sagte er.
    «Kann sein.»
    «Machen Sie’s gut.»
    Sie nickte und lächelte, und der Wachmann fragte sich, ob er den schwarzen Geländewagen erwähnen sollte, der seit ein paar Tagen häufig auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Bürgersteig stand und den er nie zuvor gesehen hatte. Und dass da jemand drinsaß und rauchte und wartete – worauf? Letztlich wäre er sich blöde vorgekommen. Als er bei Blohfeld gerade angefangen hatte, damals, vor bald zwanzig Jahren, als er noch ein Student der Sozialwissenschaft und sich sicher gewesen war, dieses Studium mit einer fulminanten Diplomarbeit abzuschließen, damals, während der ersten Nachtschichten, hatte er hinter jeder Veränderung – jedem verschobenen Gegenstand, jedem vergessenen Licht, jeder unverschlossenen Tür – eine Gefahr gewittert,

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