Bis zum Ende der Welt
der unterdrückte Schrei einer Frau oder ein Ächzen drangen; der Adler fuhr ihn durchs Brandenburger Tor, zum Reichstag, zum Bunker, zum Garten der toten Kinder; er fuhr ihn zur Unterzeichnung der Kapitulation, zu den Siegesfeiern, zu den Friedhöfen und den alten und neuen Gefangenenlagern, fuhr ihn zu seiner deutschen Geliebten, an deren Geruch er sich Jahre später noch erinnern konnte, als er ihren Namen längst vergessen hatte, fuhr ihn von der Kommandantur zum Polizeipräsidium, zur Garnison und wieder zur Kommandantur, fuhr ihn zu den Amerikanern, Briten und Franzosen und in deren Offiziersclubs und Kommandanturen und fuhr ihn wieder zurück über den silbrig schimmernden Fluss. Und eines Morgens fuhr das Auto ihn zum Gefängnis von Spandau. Es regnete, man konnte kaum etwas sehen, die Scheibenwischer hatten Mühe, dem Leutnant das Fenster frei zu halten, Dunkelheit hing über der Stadt, Lichter blendeten ihn.
Whupp-whupp machten die Scheibenwischer, whupp-whupp. Sie saßen nebeneinander und schwiegen, während der Wagen den Regen durchpflügte. Bei jedem Halt hörte Anna die Tropfen blechern aufs Autodach prasseln, das Radio war aus, Laska schaute in die von schmierigem Licht trübe gewordene Nacht. Wenn sie dann wieder anfuhren, legte er mit Ingrimm die Gänge ein, trat wütend das Gaspedal durch, beschleunigte.
Als sie an eine Kreuzung kamen, überlegte Anna, wo sie überhaupt waren. Sie hatte begonnen, in Gedanken eine grobe Karte der Stadt zu zeichnen, hatte versucht, sich bestimmte Straßenfluchten und markante Gebäude zu merken. Doch jetzt, im Regen, sah alles gleich aus.
Laskas Fuß verharrte über der Kupplung, der Volvo fuhr. Später wird ein Polizist Anna danach fragen, und sie wird wahrheitsgemäß antworten: Die Ampel war grün.
Die Ampel ist grün, als das Auto auf der Gegenfahrbahn – ein Kleinwagen, Dreitürer, rot, nichts Besonderes – links abbiegt. Vielleicht hat der Fahrer sie nicht gesehen, vielleicht hat er die Geschwindigkeit des Volvos falsch eingeschätzt. Vielleicht will er schnell weiter, vielleicht will er schnell zurück, vielleicht will er nach Hause. Autos bestimmen unser Leben.
Sie sieht es kommen. Wie in Zeitlupe. Ein Gefühl der Ohnmacht, des Scheiterns bemächtigt sich ihrer: weil man nichts machen kann. Was jetzt passiert, wird sowieso passieren, ob du nun willst oder nicht. Unausweichlich. Sie fahren in den roten Wagen hinein, sie sieht, wie sich vor ihr in der Verbundglasscheibe, im Bruchteil einer Sekunde, ein Netz von Myriaden haarfeiner Linien ausbreitet, sie hebt die Arme, dreht den Kopf (schließt sie die Augen? Oder schaut sie nach links, beobachtet, wie Laska mit der Stirn aufs Lenkrad schlägt, der Volvo ist alt, es gibt keinen Airbag, man kann froh sein, dass der Wagen überhaupt Kopfstützen hat) und spürt den Aufprall, einen Stoß, der durch ihren ganzen Körper geht, begleitet von einem malmenden Geräusch, von dem sie nicht weiß, ob es die Karosserie ist oder einer ihrer Knochen.
Stille.
Sie hört etwas zischen, hat einen komischen Geruch in der Nase. Plötzlich denkt sie, dass sie gleich sterben könnte: Benzin läuft aus, ein Funke zuckt, der Wagen explodiert, und sie ist einfach tot, die Geschichte zu Ende oder vielmehr – die Geschichte ist nicht zu Ende, sie geht einfach ohne sie weiter, das passiert vielen Menschen, guten wie schlechten, warum also nicht auch ihr? Die Beifahrertür rechts neben ihr ist offen (oder hat sie sie aufgestoßen?), sie steigt aus, wankt. Dann fällt ihr Laska ein und dass er immer noch im Wagen sein muss und wahrscheinlich gleich mit ihm verbrennt, und sie geht um die vom Aufprall zerdrückte Front, um den noch fauchenden, noch von letzten Umdrehungen zitternden Motorblock herum, und da steht er vor ihr, Blut rinnt ihm aus einem Schnitt über dem Auge und wird vom Regen die Wange hinuntergespült, er hält einen offenen Verbandskasten in der Hand, Mullbinden und Heftpflaster und Kompressen quellen heraus, und er starrt sie an und fragt tonlos: «Ist dir was passiert.» Sie schüttelt den Kopf, und er tappt an ihr vorbei auf das rote Auto zu, das der Zusammenprall umgedreht hat und, beinahe auf dem Dach liegend, an einem Laternenpfahl lehnt, und er geht in die Hocke, schaut hinein, und sie schaut auch hinein, und sie sehen die beiden leeren Kindersitze und das blutüberströmte Gesicht des Mannes, der da kopfüber in seinem Sitz hängt, und Laska brüllt: «Nein, nein!», und gestikuliert mit dem
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