Bis zum Ende der Welt
eine Gefahr, die am Ende bloß Ausgeburt seiner Phantasie gewesen war. Und so blieb seine Absicht, das schwarze Auto zu erwähnen, schon in ihrem frühesten Stadium stecken.
Anna ging zurück zum Haus, der Wachmann sah ihr nach und hatte wohl einen jener Tagträume, die seit Sigmund Freud allen Männern zugeschrieben werden. Dann setzte er sich ins Auto und fuhr davon.
Laska kam am späten Nachmittag zurück, es begann zu regnen, und er war noch einsilbiger als sonst. Manchmal schien er in Gedanken verloren, sah an ihr vorbei, schwieg. Der Himmel war bedeckt, kein Mond oder Stern zu sehen.
An jenem Abend ging er in sein Zimmer wie ein Junge, der etwas ausgefressen hatte. Und am nächsten Tag war es nicht besser. Zum ersten Mal, seit Anna bei ihm war, setzte er sich vor den Fernseher und sah sich die Nachrichten an.
«So geht nicht», sagte sie und schlug vor, einen Ausflug zu machen.
«Es regnet», sagte er.
Trotzdem fuhren sie los. Besuchten im Ostteil der Stadt die Nachmittagsvorstellung des Planetariums. Eine Kindervorstellung: «Kometen – Vagabunden im All».
«Was sind Vagabunden?», fragte neben Anna ein fünfjähriger Junge seinen Vater, einen Mann in Strickpullover, Jeans und Tennisschuhen. Der Mann starrte auf Annas Beine, und es war nicht klar, ob er über eine Antwort auf die Frage seines Sohnes oder etwas ganz anderes nachdachte.
«Tut mir leid», flüsterte Laska, «ich wusste nicht, dass es für Kinder ist.»
Das mache nichts, antwortete Anna, es sei sogar ganz gut, so könne sie noch etwas Deutsch lernen.
«Weit draußen», sagte eine unsichtbare, tiefe Stimme, «jenseits der Bahn des Eisplaneten Neptun, wo Pluto und Charon einsam um die Sonne wandern, ist die Heimat der Kometen.»
Ein schwacher Lichtpunkt schien am künstlichen Himmel auf, wurde heller und begann seine Reise durch das Sonnensystem. Die Planeten hatten Gesichter, und jedes Mal, wenn der Komet an ihnen vorbeiflog, erzählten sie etwas von sich, bevor sie dem Himmelskörper eine gute Reise wünschten.
Laska und der kleine Junge zwei Sitze weiter waren ganz gebannt von der Vorführung, während der Vater verstohlen Annas Schenkel betrachtete und seinen Arm gegen ihren drückte, mal stärker, mal schwächer. Schließlich beugte er sich zu ihr hinüber und flüsterte: «Das ist wirklich süß gemacht.»
Anna nickte.
«Sind Sie öfter hier?»
«Warum», antwortete Anna auf Ukrainisch, «sagst du nicht einfach, dass du mit mir ins Bett gehen willst?»
«Ach, Sie sind nicht von hier?», entgegnete der Mann. Er sackte in seinem Sessel etwas zusammen und nahm den Arm von der Lehne.
Als das Licht anging, blinzelte Laska, rieb sich die Augen, und ein Lächeln, eine Ahnung von Glückseligkeit, huschte über sein Gesicht, bevor es wieder dieselbe Resignation zeigte wie zuvor.
«Papa», quengelte der kleine Junge, «was sind denn nun Vagabunden?»
«Das», antwortete der Vater, «sind Menschen, die nirgendwo hingehören.»
In der Nähe des Planetariums kamen sie an einem georgischen Restaurant vorbei, und weil es Anna an das armenische Restaurant in Kiew erinnerte, gingen sie hinein, um etwas zu trinken. Als die Bedienung mit der Speisekarte kam, winkte Laska ab, sagte aber, dass Anna natürlich etwas zu essen bestellen könne. Sie schüttelte den Kopf. Die Kellnerin nahm die Karten und zog sich zurück, draußen regnete es immer noch. An der Wand hinter Laska hing ein handgeknüpfter Teppich: der Kampf des heiligen Georg mit dem Drachen.
«Warum hast du mich geholt?», fragte sie.
Er sah sie traurig an, versuchte zu lächeln. «Vielleicht wollte ich mal ein neues Gesicht sehen.»
«Hör auf. Du hast dir eine Frau gekauft, und nun kannst du nichts mit anfangen. Warum? Gefalle ich dir nicht?»
Er nickte. «O doch, aber … es ist … also, ich habe nicht gedacht, dass jemand wie du … ich meine, so jung … und so …»
«Nicht rausreden. Warum?»
«Warum bist
du
mitgekommen?»
«Wegen Geld.»
Er lächelte immer noch, nickte. «Dann ist ja alles gesagt. So ist das eben manchmal. Man versteht sich, oder man versteht sich nicht. Ich werde dir natürlich die Rückreise bezahlen.»
Schweigend tranken sie den Wein aus, und schweigend stiegen sie in Laskas Wagen.
Die Geschichte eines Autos
«Autos bestimmen unser Leben», pflegte Annas Großvater zu sagen, vor allem dann, wenn im Winter die Batterie seines Ladas streikte. Viele Jahre zuvor, in jenen Apriltagen, als in Berlin noch geschossen wurde, war
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