Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
Vom Netzwerk:
er zu seinem ersten eigenen Auto gekommen, das er später, als er längst im Ruhestand war, immer wieder als Musterbeispiel für Zuverlässigkeit nennen sollte – im Gegensatz zu seinem Lada.
    Das Auto, ein 1935 er Adler Trumpf Cabriolet, stand in einer stillen Straße im Stadtteil Weißensee. Die Bürgersteige waren breit, die Häuser – graue Kästen aus den zwanziger Jahren mit Flachdächern, glatten Fassaden und eingelassenen Loggien – nahezu unversehrt. Aus den Fenstern und von den Balkonbrüstungen herab hingen Bettlaken, und weil an jenem Tag die Sonne schien, hätte man fast glauben können, es wäre ein Wochenende im Frieden und die Bewohner der Häuser hätten ihre Wäsche zum Trocknen nach draußen gehängt. Jenseits der Dächer aber, wo Leutnant Konew das Zentrum der Stadt wusste, jenen inneren Ring, der in seiner Phantasie immer mehr dem letzten Kreis der Hölle glich, stieg brauner Rauch zum Himmel auf, stampften dumpf die Acht-Achter, mit denen die Verteidiger von den Flak-Türmen herab auf alles schossen, was sich bewegte.
    Hier aber war es menschenleer und seltsam aufgeräumt: Dem Pflaster fehlten die Toten. Auf ihrem Vormarsch hatten Zerstörung und Leichen den Weg gesäumt, hatte Konew mehr als einmal in jungenhafte, leblose Gesichter geblickt, waren ihm die absurd verdrehten Gliedmaßen der Leichen aufgefallen, hatte er der Versuchung widerstehen müssen, den toten Feinden die Gebeine zu richten, auf ihrem letzten Bett, das die Straße war. Aber in dieser Straße war nichts. Bis auf zwei leere Straßenbahnwaggons und – das Auto.
    Als sich Konew und Sascha, ein hünenhafter Soldat aus Sibirien, der für den Leutnant so etwas wie Begleiter, Beschützer und Adjutant zugleich war, dem Auto näherten, hörten sie es: Leise schnurrte der Motor. Die beiden rannten zur einen Seite der Straße, drückten sich an die Häuserwand, spähten nach oben und schlichen dann vorsichtig, die Waffen im Anschlag, im Entenmarsch weiter, bis sie sich vor der Beifahrertür hinkauerten. Das Auto war vor nicht allzu langer Zeit hastig olivgrün gestrichen worden, doch die Farbe blätterte über dem ursprünglichen Rot wieder ab. Sie sahen zum Dach des gegenüberliegenden Hauses, zu den Balkonen. Zumindest bot ihnen das Auto etwas Deckung. Langsam ließ sich Sascha auf den Boden gleiten, schaute unter das Fahrzeug. Er wandte sich Konew zu, schüttelte den Kopf. Der Leutnant gab dem Riesen einen Wink, der hockte sich geräuschlos hin, dann riss Konew die Tür auf. Wieder schüttelte Sascha den Kopf. Das Auto war ebenso leer wie die Straße. Konew überlegte, was sie nun machen sollten. Er zog seine Zigaretten hervor, und sie rauchten. Als sie fertig waren, gab er Sascha ein Zeichen, und sie rannten auf einen Hauseingang zu – eine unversehrte Tür, die Sascha mit einem Tritt aufbrach. Sie stiegen die Treppen hinauf. Dann fingen sie an, die Wohnungen zu durchkämmen, eine nach der anderen, acht an der Zahl. Jede war verlassen.
    Sie fanden die Bewohner im Keller: Alte, Kinder, Frauen. Die Frauen suchten Schutz in der Dunkelheit der Kellerecken, verbargen die Kinder.
    «Freund – nix Hitler», stammelte ein Greis mit irrem Grinsen in kaum verständlichem Russisch.
    «Wem gehört das Auto?», fragte Konew auf Deutsch. Aber an den Blicken der Menschen sah er, dass sie schon seit ein paar Tagen hier unten waren und nichts von dem Auto wussten.
    Draußen schien immer noch die Sonne, der Adler stand immer noch mit laufendem Motor da. Konew rauchte eine weitere Zigarette, schaute sich um, murmelte: «Verdammt, was soll’s», stieg in das Auto, fuhr ein paar Meter. Nichts geschah. Sascha lief rückwärts hinterher, den Blick und die Maschinenpistole auf die Dächer und Balkone gerichtet, wo sich jedoch nichts regte. Dann sprang er in den Wagen, der Adler schaukelte, Konew gab Gas, und sie brausten davon.
    Leutnant Konew sollte nie erfahren, wem das Auto gehört oder wer es zuletzt gefahren hatte. Ebenso wenig fand er nach dem Ende des Krieges die Straße wieder, in der es abgestellt worden war.
    Der Adler fuhr Annas Großvater zum nächsten Verbindungsposten, wo er den Korporal aus Minsk kennenlernte, dem ein Projektil den Arm wegriss, gerade als er dem Leutnant den Hörer des Feldtelefons reichen wollte; der Adler fuhr ihn an dem schreienden SS -Mann vorbei, den man auf den warmen Asphalt zum Sterben gelegt hatte; der Adler fuhr ihn durch die Trümmerwüste, durch das Labyrinth der Ruinen, aus denen nur Rauch und manchmal

Weitere Kostenlose Bücher