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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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eines Raketensilos unter den Nagel gerissen. An der Bar standen gefederte Lehnstühle, auf denen man wie ein Stehaufmännchen hin und her schaukeln konnte. Und nicht selten bewies einer der anwesenden Mafiosi seine Großzügigkeit dadurch, dass er eine Runde schmiss, indem er «Atomalarm» auslöste, woraufhin eine lustlos klingende Sirene losging und über dem Tresen eine rot leuchtende Einladung zu blinken begann: Letzte Bestellungen, bitte!
    Irgendwo krachte ein Ast, und Anna blieb stehen. Links fiel das Wäldchen sanft ab, und durch die Bäume glaubte sie in einiger Entfernung eine Lichtung auszumachen. Rechts standen die Stämme dichter, ließ sich im Unterholz eine Schlucht vermuten, in der jetzt das Knacken weiterer Äste zu hören war.
    Vorsichtig ging sie weiter, bemüht, selbst kein Geräusch zu machen. Es dauerte einen Moment, bis sie sie sah: eine Gruppe von fünf Rehen, die in der Schlucht ästen und, als sie den Rand des Weges erreichte, die Köpfe hoben. Sie blickten nicht zu ihr, sondern starr an ihr vorbei. Sekundenlang verharrten die Tiere und Anna in vollkommener Stille. Dann, wie auf ein stummes Zeichen hin, vielleicht das Zucken eines Ohres oder ein unscheinbares Schütteln eines Kopfes, stoben sie die Ränder der Schlucht hinauf und in den Wald hinein davon. Tau glitzerte auf den Blättern im Morgenlicht, es roch nach feuchter Rinde.
    Am Ende des Hohlwegs stand das Haus. Es war groß und alt und in schlechtem Zustand. Putz blätterte von den Außenwänden, die Fenster waren mit klapprigen Holzläden verschlossen, Moos wuchs auf den Schindeln des Satteldachs, das an einem Ende einen Buckel machte, als wären die Balken darunter geborsten und wölbten sich nun nach außen vor. Eine breite Treppe führte zu einem Eingangsportal, dessen Türflügel genauso wie die Fensterläden schon vor langer Zeit die Farbe verloren hatten, sodass das vom Wetter grau gewordene Holz unter den letzten Resten Lack hervorschien. Rechts vom Haus standen einige niedrige Baracken mit kleinen Fenstern und Wellblechdächern, die neueren Datums, aber in kaum besserem Zustand waren. Auf dem Platz dazwischen parkte ein Auto, ein blauer Kleinwagen, den jemand wahrscheinlich gerade eben erst dort abgestellt hatte. Auf den Seitentüren las Anna:
     
    BLOHFELD & CO – WACH - UND SCHLIESSDIENST – ALARMFAHRTEN
     
    Sie sah sich um, ob irgendwo Herr Blohfeld oder einer seiner Angestellten herumlief, konnte aber niemanden entdecken. Dann ging sie links um das Gutshaus herum.
    Vor ihr lag der Fluss, über dessen glatte Wasseroberfläche zwei Enten niedrig und wie im Wettstreit hinwegflogen. Sie lief zum Ufer. Unmittelbar am Wasser stand eine alte Parkbank mit gusseisernen Füßen und einer Rückenlehne aus morschen Holzleisten, jemand hatte sie eigens so platziert, dass er von dort aus den Fluss betrachten konnte. Sie setzte sich und beobachtete die Enten, die vor einer kleinen Insel gelandet waren. Es war ganz ruhig, nur in der Ferne glaubte sie einen Schiffsmotor zu hören. Eine ganze Weile lang saß sie so da, erlauschte die Stille, sah auf das Wasser. Die Strömung schob eine leere Plastik-Limonadenflasche aufs Ufer zu.
    «Entschuldigen Sie!»
    Sie drehte sich um.
    Ein Mann winkte auf der Terrasse des Hauses, einem überdachten, halbrunden Vorbau, der genauso heruntergekommen war wie der Rest. Die Terrassentür hinter ihm stand offen, anscheinend war er gerade noch im Haus gewesen. Er trug eine graue Hose und einen blauen Blouson. Irgendwie sah er aus wie ein Busfahrer. Er hob theatralisch die Arme, ließ sie dann, ähnlich einer Marionette, wieder sinken, schüttelte den Kopf und stolperte die Treppe der Terrasse herunter, um quer über die Wiese auf Anna zuzustapfen. Etwa zwei Meter vor ihr blieb er stehen. Er war dick, vielleicht vierzig Jahre alt, hatte aber trotzdem etwas Jugendliches an sich: Sein Gesicht war rosig, die Haut faltenlos, das volle Haar fiel ihm mit einem Seitenscheitel ins Gesicht.
    «Was machen Sie da?», rief er und gab sich Mühe, empört zu klingen.
    «Nichts.»
    «Das ist nicht erlaubt.»
    «Ich genieße die Aussicht. Ich ruhe aus. Ich war spazieren.»
    «Das ist noch viel weniger erlaubt.»
    «Warum?»
    «Also, ich mache hier nur meine Arbeit, es ist halt nicht erlaubt, so ist das.»
    «Es ist nicht erlaubt, Luft zu atmen?»
    «Atmen ist schon erlaubt. Herumspazieren nicht.»
    «Dann bleibe ich sitzen.»
    «Das geht nicht. Sie verlassen bitte das Gelände.»
    «Ist nicht erlaubt.»
    «Wie?»
    «Da

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