Bis zum Ende der Welt
Verbandskasten, bis sie bei ihm ist, ihn beruhigt, sich hinkniet, den Mann anspricht, der aber nicht antwortet, sondern nur stöhnt. «Er lebt», sagt sie, und Laska steht da immer noch ratlos mit seinem Verbandskasten herum, aus dem die Hälfte des Inhalts mittlerweile herausgefallen ist – Mullbinden, Dreieckstücher, Wundkompressen liegen auf der regennassen Straße –, und er sagt, man müsse ihn verbinden, und wieder stöhnt der Mann, und der Regen fällt, «mein Gott, der hat Kinder, die warten jetzt, die warten jetzt zu Hause auf ihn», sagt er, und sie sieht ihn an, als sie die Sirenen hört und die Wagen mit den Blaulichtern kommen, sieht seine Verzweiflung, als man sie beide wegzieht und ein Feuerwehrmann die Spreizschere wie eine riesige, dritte Hand an der Tür des zerdrückten, beinahe auf dem Dach liegenden roten Wagens ansetzt.
Im Abstand von einer Stunde rief sie zweimal im Krankenhaus an, während Laska neben ihr am Esstisch saß und vor sich hin starrte. Dem Mann, dem «anderen Unfallbeteiligten», so hieß es, gehe es den Umständen entsprechend, er sei nicht in Lebensgefahr, ein paar Rippen seien angebrochen, das Gesicht zerschnitten, er habe Glück gehabt.
Laska war erleichtert. Er drückte sich eine Kompresse auf den Schnitt über dem Auge, die war blutdurchtränkt. Sie fand im Bad ein großes Heftpflaster und Desinfektionsmittel, nahm die Kompresse weg, reinigte die Wunde und klebte dann das Pflaster darauf.
«Vielleicht doch besser nähen lassen von Arzt», sagte sie.
Stumm saß er da, sodass sie nicht wusste, ob er sie gehört hatte und darüber nachdachte, in ein Krankenhaus zu gehen, bevor er erwiderte: «Ich werde sterben.»
«So schlimm es ist auch nicht», sagte sie.
Er sah auf. Einige Sekunden lang schwieg er, bevor er erklärte: «Sechs Monate noch, haben die Ärzte gesagt, mehr nicht.»
Am Anfang, sagte er, habe er es selbst nicht geglaubt. Er sei zu verschiedenen Spezialisten gerannt, mal habe er sich in sein Schicksal fügen, dann wieder dagegen rebellieren wollen. An manchen Tagen sei er aufgewacht und habe die Vögel singen gehört und trotz der Gewissheit, dass er sie bald nicht mehr hören werde, so etwas wie Glück und Frieden verspürt. An anderen Tagen habe er die Augen aufgeschlagen und alles für einen bösen Traum gehalten. Nicht vorstellen könnten wir uns, dass plötzlich alles enden solle. Die Ärzte täten ihr Übriges. Äußerten sich nicht eindeutig, nicht so, wie er es als Ingenieur gewohnt sei. Mal hätten sie von drei Monaten gesprochen, dann von einem Jahr oder einer ganz unbestimmten «kurzen» Zeit – was solle das sein, eine unbestimmte «kurze» Zeit? Mal gebe es neue Behandlungsmöglichkeiten, dann wieder nicht, dann gebe es sie doch, aber er sei nicht dafür geeignet. Es sei eben nicht so wie in den Filmen, wo man am Anfang die schreckliche Nachricht bekomme und im Verlauf der restlichen neunundachtzig Minuten wisse, was zu tun sei. Er habe überhaupt nicht gewusst, was er machen solle. Widerstand oder Aufgabe? Diszipliniert leben oder «das Leben genießen»? Das sei plötzlich alles Gerede gewesen. Das Einzige, was er gemacht habe, sei der Verkauf seiner Firma gewesen, danach sei er in den Ruhestand gegangen. Aber das habe er sowieso demnächst vorgehabt. In Portugal besitze er ein Ferienhaus, im Süden, fast am westlichen Zipfel. Dort sei es das ganze Jahr über schön, der Himmel fast immer klar. Dort stehe auch das große Teleskop, von dem er gesprochen habe. In diesem Haus habe er vorgehabt, seinen Lebensabend zu verbringen, und nachdem er es kurz in Betracht gezogen habe, von einer Brücke zu springen, sei er zu dem Entschluss gekommen, an seinem ursprünglichen Plan festzuhalten. Er sei ein Kometenjäger, erklärte er weiter und schien sich kaum an Annas Stirnrunzeln zu stören. Sie wisse ja sicher, was das sei – jemand, der den Himmel nach unbekannten Kometen absuche. Es gebe Kometen, die reisten zu den entlegensten Winkeln des Sonnensystems und bräuchten Jahrtausende für einen Umlauf. Seit seiner Kindheit träume er davon, so einen Himmelskörper, den man nur einmal im Leben sehen könne, und zwar in der kurzen Zeit, wenn er auf dem Weg zur Sonne an der Erde vorbeifliege, selbst zu entdecken. Das sei alles, was ihm noch bleibe: Er habe vor, mit dem Blick zu den Sternen zu sterben. Nicht in einem Krankenhaus.
Anna sah ihn fragend an.
Seit gestern kenne er die endgültige Diagnose. Die Ärzte seien konkret geworden.
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