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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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sonst wie Theater machst, Mädchen», flüsterte er auf Russisch, «ist es aus mit dir.»
    Dann fuhr der Wagen los.

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    4
    Der Wagen fuhr schnell, mit einem kraftvollen, leisen Röhren. Als Anna versuchte, den Kopf zu heben, sagte der Fahrer etwas, und der Mann auf dem Rücksitz packte sie an den Haaren, versetzte ihr einen Fauststoß gegen das rechte Ohr und drückte ihren Kopf wieder auf den Boden, bevor er sagte, sie solle das nicht noch mal versuchen. Er sagte es nicht zu ihr, er sagte es zum Fahrer, «das soll die nicht noch mal versuchen», man müsse gleich am Anfang klarmachen, wie die Sache laufe, nämlich so und nicht anders. Tränen traten ihr in die Augen, doch sie war zu überrascht, zu verängstigt oder vielleicht auch zu stolz, um auch nur einen Laut von sich zu geben. So fuhren sie weiter.
    Als sie schließlich anhielten, schienen ihr Stunden vergangen. Zwischendurch hatte sie den Eindruck gehabt, als wären sie immerzu im Kreis gefahren. Der Mann, dessen Gesicht sie kaum hatte sehen können, beugte sich zu ihr herunter, und sie spürte seinen Atem an ihrem immer noch schmerzenden Ohr. Lange, vielleicht länger als eine halbe Minute, spürte sie ihn atmen, bevor er sie am Arm hochzog und auf den Rücksitz bugsierte. Mit der linken Hand strich er ihr die Haare glatt und legte sie dann, als wäre er ein Kind, das einen Sprung in der teuren Vase seiner Eltern verbergen will, über ihr angeschwollenes Ohr. Leise, jedoch ohne irgendeine Erregung in der Stimme, wie jemand, der eine komplizierte Maschine erklärt, sagte er: «Wir steigen jetzt aus. Du bleibst ganz ruhig.»
    Das Haus war ein zehn Stockwerke hoher Wohnblock. Unten befanden sich einige Geschäfte: eine Drogerie, ein Bäcker, eine Bankfiliale. Buden, wie Anna sie von den Metrostationen in den Außenbezirken Kiews kannte, waren auf dem Vorplatz aufgebaut und boten allerlei Waren feil: Wurst und Schinken, Schnaps, Socken, Taschen, Jeans, CD s, Computerspiele, Bonbons, Gürtel, Handytaschen, Obst und Gemüse, geräucherten Fisch, Nützliches und Überflüssiges eng nebeneinander.
    «Mist», sagte der Fahrer, «der Markt. Tut mir leid. Hab ich vergessen.»
    «Fahr hinten ran. Das ist sowieso besser.»
    «Aber weiter.»
    «Du bist faul.»
     
    Der bullige Mann mit der Sonnenbrille hatte ihr einen Arm um die Schulter gelegt und zog sie an sich, nachdem sie um das Haus herumgefahren und ausgestiegen waren. Der Fahrer, ein sehnig wirkender, dunkelhaariger junger Kerl, der eine Trainingshose trug und dem Mann mit der Handykamera in Kiew zum Verwechseln ähnlich sah, ging ebenfalls dicht neben ihr und umklammerte mit einer Hand ihren linken Arm, wobei er ab und zu den Griff lockerte, bis ihm wieder einzufallen schien, dass er sie fester halten musste. Mit der anderen Hand trug er ihr Gepäck. Er pfiff eine Melodie, eine bekannte Melodie, an deren Titel Anna sich nicht erinnern konnte, aber der bullige Sonnenbrillenträger sagte, er solle damit aufhören. Sie kamen zu einem überdachten Durchgang zwischen dem Wohnblock und einem sich daran anschließenden Flachbau, in dem ein Supermarkt untergebracht war: «Vita Activa – Ihr Biomarkt vor der Haustür», las Anna auf einem Schild über ein paar grauen Containern, aus denen Unrat quoll.
    Auf dem Klingelbrett des Hauseingangs standen keine Namen, nur Nummern. Der Bulle sah den Fahrer an und nickte. Über dem Klingelbrett überwachte eine in die Konsole eingelassene Fischaugenkamera den Eingangsbereich. Der Fahrer dachte nach, tippte eine Nummernkombination, legte seinen Kopf in den Nacken und sagte in Richtung der Kamera: «Wir sind’s.»
    Im Aufzug drückte er den obersten Knopf. Im sechsten Stock hielt der Fahrstuhl, die Tür ging auf, und vor ihnen stand eine alte Frau mit einem Gefährt, das ihr gleichermaßen als Stütze und als Gehhilfe diente. Von einem der Griffe baumelte eine leere Einkaufstasche aus Stoff: «Vita Activa – Ihr Biomarkt vor der Haustür».
    «Geht’s abwärts?», fragte die alte Frau.
    «Aufwärts», sagte der Fahrer, und schon schloss sich die Tür wieder.
    Anna hatte gedacht, das Haus hätte zehn Stockwerke, tatsächlich waren es, das Ladengeschoss mitgezählt, elf. Die beiden Männer schoben sie durch einen langen Flur. Am Ende des Flurs gingen sie eine Treppe hoch und kamen in einen kürzeren Gang mit sieben Türen – die Türen der Wohnungen 100 bis 106 . Der Fahrer klingelte an der 101 , die sich gleich rechts von ihnen befand. Ein Summer ertönte,

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