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Bis zum Ende der Welt

Bis zum Ende der Welt

Titel: Bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Zähringer
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und die Tür schnappte auf.
     
    Die Haut des Mannes glänzte ledrig-braun, als hätte er vor vielen Jahren einmal einen Teil seines Lebens auf See oder im Gebirge verbracht. Er hatte keine Haare auf dem Kopf, sondern einen kahlrasierten Schädel. Furchen und Falten durchzogen sein Gesicht, rahmten seinen schmalen Mund. Er trug einen dunklen Anzug und ein graues Hemd, und beides schien etwas zu groß zu sein. Wenn er in eine Richtung sah, drehte er den ganzen Kopf, eine Bewegung, die ihm etwas Echsenhaftes verlieh. Er saß auf einem hellen, cremefarbenen Sofa, vor ihm, auf einem Glastisch, standen ein Glas Wasser und ein Aschenbecher, und er sah auf einen Fernseher, ohne dass das, was er sah, ihn offenbar besonders fesselte. Als sie eintraten, hob er den Kopf, drückte auf eine Fernbedienung und lächelte gedankenverloren und erleichtert wie ein Fahrgast an der Haltestelle, wenn nach langem Warten endlich der Bus gekommen ist.
    Anna zwischen sich, blieben der Fahrer und der bullige Sonnenbrillenträger vor ihm stehen, und der Mann auf dem Sofa betrachtete sie lange. Als der Bullige ihm Annas Handtasche reichte, steckte er seine ledrige Hand hinein, zog ihren Pass hervor und blätterte ihn durch, als wäre er ein Grenzbeamter und sie hätte sich der illegalen Einreise schuldig gemacht. Er ließ den Pass in seinem Sakko verschwinden und schüttelte den Kopf, bevor er sagte:
    «Igor Iwanowitsch hat sich Sorgen gemacht.» Seine Stimme klang angenehm, beinahe vertrauenswürdig. «Aber jetzt haben wir dich ja gefunden. Setz dich.»
    Der Bullige drückte sie am anderen Ende des Sofas in die Polster, blieb selbst aber stehen. Der Fahrer hatte sich auf die Lehne eines Sessels gesetzt und beobachtete die Szenerie mit dem neugierigen Gesichtsausdruck eines gelehrigen Schülers.
    Igor Iwanowitsch war ihr Vater. Wie hatte er sie ausfindig gemacht? Wahrscheinlich über die Agentur. Wahrscheinlich hatte er einfach die Adresse gekauft. Laskas Adresse.
    «Hat es dir nicht gefallen bei dem Deutschen?» Der Mann mit der Lederhaut wartete die Antwort nicht ab, sondern nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. «Zu alt? Nicht alt genug? Zu spezielle Wünsche?» Er hielt ihr Portemonnaie in der Hand und zog die Geldscheine hervor, die sie Laska gestohlen hatte. «Wie ich sehe, hast du dir etwas Taschengeld von ihm genommen. Aber das wird nicht reichen für die Rückreise. Du wirst arbeiten müssen.» Er beugte sich vor und musterte sie wie jemand, dem man eine besondere Maschine vorführt und der sich nun ein Bild vom Zustand dieser Maschine machen will. «Du kannst eine Menge Geld verdienen, wenn du für mich arbeitest.»
    «Und wenn ich nicht für Sie arbeite?»
    Der Mann auf dem Sofa lächelte milde.
    «Wie willst du dir sonst die Rückreise verdienen? Und meine Auslagen erstatten? Als Igor, mein alter Kamerad, sich bei mir meldete und mich bat: ‹Wiktor, bitte bring sie mir zurück, oh, bitte, Wiktor, bring sie mir zurück!›, da habe ich gesagt: ‹Alte Kameradschaft hin oder her, wie stellst du dir das vor? Wir sind hier in Deutschland, da kann man nicht einfach in ein Haus gehen und Leute mitnehmen.›» Er schüttelte wieder den Kopf. «Alles passiert irgendwann zum ersten Mal. Jetzt bist du mir fast von selbst ins Netz gegangen und wirst für die Kosten und die Scherereien aufkommen, die ich deinetwegen hatte, als ich dich noch gar nicht kannte. Du kannst freiwillig für mich arbeiten, oder Borys» – er deutete auf den bulligen Kerl, der sie geschlagen hatte – «bringt es dir bei. Denk darüber nach.» Und mit diesen Worten lehnte er sich zurück, nahm die Fernbedienung in die Hand und schaltete zwischen den Kanälen hin und her.
    «Woher kennen Sie meinen Vater?»
    Borys wollte Anna schon wegziehen, aber Wiktor hob leicht die Hand, und sein Helfer ließ sie los.
    «Vater hat er sich nennen lassen, soso. Wir waren in derselben Brigade, Igor und ich. Bis er das Bein verloren hat.»
    «In Afghanistan.»
    Zum ersten Mal, seit Anna den Raum betreten hatte, zeigte sich eine wirkliche Regung in dem echsenhaften Gesicht, weiteten sich für einen Moment Wiktors Pupillen vor echter Überraschung.
    «Afghanistan?» Er wiegte langsam den Kopf. «Keiner von uns war in Afghanistan.»
     
     
    Der Raum war beinahe quadratisch, mit einer Tür, die zum Flur führte, und einem Fenster gegenüber. Das war bis auf einen Streifen im oberen Drittel mit einer milchigen Folie abgeklebt, sodass zwar Licht hindurchfiel, man aber nicht nach

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